Erste Nachkriegsakademiker

Lange Zeit nach dem Krieg mussten die Deutschen in der Sowjetunion unter starken Diskriminierungen bezüglich des Zugangs zur akademischen Bildung leiden. Dies lässt sich statistisch nachweisen:

Eines der wenigen Studienfächer, in dem die Deutschen aus Russland seit Ende der 1950er Jahre relativ stark vertreten waren, war die Ausbildung zum/zur Deutschlehrer/in. Das untenstehende Bild zeigt die Absolventen (des Jahrgang 1960) der Fernabteilung der Fakultät der Fremdsprachen des Pädagogischen Instituts in Alma-Ata, der damaligen Hauptstadt der Unionsrepublik Kasachstan. Eigentlich war diese Fakultät seit 1941 eine eigenständige Pädagogische Hochschule für Fremdsprachen, die in den Jahren 1958-1961 jedoch ihre Selbständigkeit verloren hat. Ab 1963 bildete die deutsche Abteilung des Fremdspracheninstituts auch LehrerInnen für den muttersprachlichen Deutschunterricht aus.

Absolventinnen und Absolventen des 3. Lehrgangs der Fernabteilung der deutschen Sprache der Fakultät der Fernsprachen des Kasachischen Pädagogischen Instituts, 1960. © Arvid Lutz

Vertreter der deutschen Minderheit stellen ausnahmsweise die Mehrheit der Absolventinnen und Absolventen des Jahrgangs 1960. Die Kriegs- und Nachkriegsjahre sind an ihnen nicht spurlos vorbeigegangen: Die meisten hatten keine Möglichkeit, im Jugend- bzw. frühen Erwachsenenalter eine Hochschule zu besuchen. Es bestand für sie – wenn überhaupt – einzig und allein die Möglichkeit, diese Bildungslücke durch ein Fernstudium im vorwiegend mittleren Erwachsenenalter zu schließen. Viele weitere Personen versuchten darüber hinaus ihre durch widrige Umstände unterbrochene pädagogische Laufbahn mit der erneuten Aufnahme eines Studiums lediglich fortzusetzen.

Jadwiga Lutz (1909‒1982)

Ein typisches Beispiel hierzu stellt der Lebens- und Berufsweg von Jadwiga Lutz (1909‒1982) dar. Sie wurde in der Südukraine geboren, absolvierte 1929 das Deutsche Pädagogische Technikum in Prischib und unterrichtete einige Jahre als Lehrerin. Nach der Heirat lebte die Familie ab 1935 in Krasnodar. Nach der Verhaftung und Verurteilung ihres Mannes, bei ihm handelte es sich ebenfalls um einen Pädagogen, durfte sie nicht mehr in Bildungsanstalten arbeiten. 1941 in das Gebiet Dschambul (Südkasachstan) verbannt, musste J. Lutz mehrere Jahre in der Kolchose auf den Zuckerrübenplantagen hart arbeiten. Aufgrund des Lehrermangels durfte sie nach dem Krieg als Deutschlehrerin in der örtlichen Dorfschule tätig sein. 1955 bis 1960 studierte sie im Rahmen des Fernunterrichts in Alma-Ata und arbeitete bis zur Pensionierung 1966 in der Schule.

Von den sieben Lehrkräften gehörte bezeichnenderweise nur ein einziger Vertreter, Dozent Ephraim Messerle (1906‒1971), der Minderheit an. Er konnte sein Studium bzw. seine Promotion noch vor 1941 abschließen bzw. verteidigen. Als späterer Leiter des Lehrstuhls für Phonetik und Grammatik an der Pädagogischen Hochschule für Fremdsprachen hat er zur Ausbildung der Schullehrer mit dem fachlichen Schwerpunkt „Deutsch als Muttersprache“ viel beigetragen, ungeachtet dessen, dass er bis 1955 wie alle Deutsche, selbst als Sondersiedler unter Kommandantur stand.