28. August – der Tag der Russlanddeutschen

Deportation vor 81 Jahren: Ursachen und Folgen

Bescheinigung über das konfiszierte Wohneigentum von Lydia Schwindt aus Balzer, ASSR der Wolgadeutschen, vom 6. September 1941. Eine angemessene Entschädigung erhielten bisher weder die Betroffenen noch ihre Nachkommen.

Nach Deutschlands Angriff im Juni 1941 rief Stalin, ähnlich wie der russische Zar 1914, den „Großen Vaterländischen Krieg“ aus. Wegen hysterischer Angst vor Spionage und feindlichen Fallschirmjägern kamen „Sowjetbürger deutscher Nationalität“ und deutschsprachige Emigranten schnell in Verdacht, Agenten der Gestapo oder der NS-Abwehr zu sein. Dadurch kam es in den ersten Kriegswochen zu zahlreichen Verhaftungen und Aburteilungen. Gleichzeitig war die sowjetische Militärführung offenbar bestrebt, ihr eigenes anfängliches Versagen u. a. durch den Hinweis auf „verräterische“ Aktivitäten der deutschen Bevölkerung in den frontnahen Gebieten zu kaschieren. Man verleumdete diese als illoyale Bürger und forderte deren Verbannung. Immer öfter wurden feindliche Angreifer nicht nur als „deutsche Faschisten“, „Hitlerleute“ oder „Nazis“, sondern schlichtweg als „nemcy“ (Deutsche) bezeichnet, allerdings mit Hinzufügung solcher Epitheta wie „zweibeinige Tiere“, „Menschenfresser“ und „tollwütige Hunde“.

Die Existenz einer anerkannten deutschen Minderheit mit verbrieften Autonomierechten stellte vor diesem Hintergrund gewiss ein Hindernis dar. Das Politbüro des ZK der Kommunistischen Partei fasste am 26. August 1941 den Beschluss über die Deportation der Wolgadeutschen nach Sibirien und Kasachstan. Zwei Tage später, am 28. August, legitimierte der Oberste Sowjet der UdSSR diese Entscheidung. Die repressive Aktion verlief unter Ausschluss der Öffentlichkeit, allerdings wurde das Ausland darüber in Kenntnis gesetzt, sodass der NS-Staat diesen Vorgang propagandistisch ausschlachtete.

Die Verbannung weiterer deutscher Sowjetbürgerinnen und -bürger aus anderen Teilen des Landes erfolgte in den nächsten Monaten. Bis Ende 1941 wurden etwa 800.000 Personen aus dem europäischen Teil der Sowjetunion verbannt, darunter befanden sich etwa 440 – 450 Tausend Wolgadeutsche, ferner aus dem Kaukasus, aus den noch nicht besetzten Teilen der Ukraine oder aus solchen Städten wie Moskau, Tula oder Gorki. Im Jahr 1942 ereilte dieses Schicksal weitere ca. 50.000 Personen. Tausende sowjetdeutsche Soldaten und Offiziere wurden aus den Reihen der Roten Armee ausgesondert und in Zwangsarbeitslager überführt.

Die Politik des Stalin-Regimes zielte darauf ab, politische, mediale und gesellschaftliche Präsenz dieser Nationalität im Land gänzlich auszuschalten und ihr kulturhistorisches Erbe auszulöschen (u. a. Theater, Presseorgane, Verlage, Museen, Bibliotheken, künstlerische und literarische Verbände, Bildungseinrichtungen). Werke materieller und geistiger Kultur wurden vernichtet oder zweckentfremdet, die deutsche Sprache als Amts-, Medien- und Unterrichtssprache verboten, deutsche Ortsnamen durch russische ersetzt und die historisch gewachsenen regionalen Sprach- und Kulturgemeinschaften gewaltsam zerstört. Allein die Wolgadeutschen wurden auf einer Fläche von knapp 4 Mio. km² verstreut. Die deutsche Minderheit wurde völlig entrechtet. Obwohl nicht gesetzlich verankert, entstand aus internen Parteibeschlüssen, Regierungsverordnungen und NKWD-Instruktionen ein dichtes Netz diskriminierender Bestimmungen.

Als Personen minderen Rechts durften die Deutschen sich in den Verbannungsgebieten nur auf dem Lande oder in kleinen Städtchen aufhalten, die ihnen zugewiesenen Wohnorte nicht eigenwillig verlassen. Da sie für die konfiszierten Lebensmittel und den enteigneten Besitz keine Entschädigung bekamen und auf sich selbst gestellt waren, kam es unter ihnen schon in den ersten Ankunftswochen zu zahlreichen Krankheits- und Hungertoten. Später war es ihnen verboten, Führungspositionen zu bekleiden oder ein Studium aufzunehmen. Ungeachtet ihrer früheren Dienststellung oder Ausbildung, ihres Offiziersranges wurden sie zu schwerer körperlicher Arbeit gezwungen. In der letzten Konsequenz bedeuteten all diese Schritte die physische Liquidierung bzw. Herabwürdigung der politischen und kulturellen Führungsschicht der Sowjetdeutschen.

Die umfassende Mobilisierung von Jugendlichen, Frauen und Männern zur Zwangsarbeit – ab September 1941 und verstärkt ab Januar 1942 – fern ihrer neuen Wohnorte, stellte eine weitere Stufe der Entrechtung dar. Zahlreiche deutsche Kinder wurden dabei, obwohl beide Elternteile noch lebten, zur Adoption in russische, kasachische Familien freigegeben oder in Waisenhäuser eingeliefert. Fast ein Jahrzehnt lang lebten Frauen und Männer voneinander getrennt, was nicht selten Eheannullierungen oder Familiengründungen mit einem andersethnischen Partner zur Folge hatte. Die Folgen dieser genozidalen Politik sind nach wie vor unübersehbar: Mindestens 150.000 Personen überlebten die Strapazen der Deportation, des elenden Daseins in den Verbannungsgebieten und den Einsatz in den Arbeitslagern nicht. Die deutsche Minderheit zeichnet sich durch einen unterdurchschnittlichen Akademisierungs- und Urbanisierungsgrad, schmale Intellektuellenschicht und Ausübung überwiegend handwerklicher Berufe aus. Die Zwangsrussifizierung führte zum Verlust der Muttersprache und zur Zerstörung der nationalen Kultur. Die große Mehrheit der noch in Russland und Kasachstan ausharrenden Nachkommen der Deportierten lebt bis heute verstreut in den einstigen Verbannungs- und Zwangsarbeitsgebieten.

Dr. Viktor Krieger, wiss. Mitarbeiter des BKDR