Rehabilitierung der Wolgadeutschen: Ein Brief von Pastor Schleuning
Im aktuellen Dokument des Monats handelt es sich um den Entwurf eines Briefes von Johannes Schleuning, Pastor und Superintendent i. R., den er im Februar 1957 an den sowjetischen Botschafter in Bonn, Andrei Smirnow, adressierte.
Der Entwurf stammt aus dem persönlichen Nachlass von Johannes Schleuning. Archiv der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland [https://lmdr.de/]
Diese Angelegenheit besprach Schleuning u. a. mit dem Bundestagsabgeordneten, Dr. Baron von Manteuffel-Szoege, den er vermutlich noch während seiner Studienzeit in Dorpat kennengelernt hatte. Ob diese Eingabe überhaupt verschickt wurde und ihren Adressaten erreicht hatte, ließ sich bislang nicht genau ermitteln.
Was war der Anlass für dieses Anliegen? Im Zuge der Entstalinisierung beschloss die neue sowjetische Staats- und Parteiführung um den Ersten Sekretär des Zentralkomitees der KPdSU, Nikita Chruschtschow, die während des Zweiten Weltkrieges deportierten kaukasischen Völker vollständig zu rehabilitieren. Bereits am 24. November 1956 erschien der Beschluss des ZK der KPdSU „Über die Wiederherstellung der nationalen Autonomiegebiete des kalmückischen, karatschaischen, balkarischen, tschetschenischen und inguschischen Volkes“. Darauf reagierte das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR mit vier Erlassen vom 9. Januar 1957 über die Wiederherstellung der nationalen Territorien dieser Kaukasusvölker (bei den Tschetschenen und Inguschen handelte es sich um eine gemeinsame autonome Republik, die Tschetscheno-Inguschische ASSR). Als höchste legislative Gewalt bestätigte der Oberste Sowjet auf seiner Sitzung am 11. Februar 1957 die rechtliche Gültigkeit dieser Erlasse, indem er ein Gesetz dazu verabschiedete. Daraufhin finanzierte der Staat verschiedene Rückführungsprogramme, tätigte Investitionen in den Ausbau der sozialen und Verkehrsinfrastruktur sowie in den Wohnungsbau, stellte Mittel zur Wiedererrichtung kultureller und bildungsrelevanter Institutionen zur Verfügung, sodass bereits zu Beginn der 1960er-Jahre das Gros der erwähnten Nationalitäten in ihren nationalen Territorien lebte.
Daran anknüpfend sprach Pastor Schleuning das ähnliche Schicksal der deportierten Wolgadeutschen und Krimtataren an, für die allerdings solche Wiedergutmachungsabsichten nicht vorgesehen waren. Er forderte für diese beiden Völkerschaften die Wiederherstellung ihrer autonomen Republiken und eine vollständige Rehabilitierung. Vor allem das schwere Los seiner Landsleute von der Wolga bewegte ihn zutiefst. Selbst aus der einstigen deutschen Kolonie Neu-Norka stammend, im fernen Dorpat studiert und einige Jahre als Pastor in Tiflis tätig, artikulierte Schleuning ab 1917 mehr als 40 Jahre lang wie kaum ein anderer die Belange der wolga- und insgesamt der russlanddeutschen Minderheit, sei es als politischer Akteur oder als erfolgreicher Publizist. Seine gesellschaftspolitischen Aktivitäten erschreckten sich von der redaktionellen Leitung der „Saratower deutschen Volkszeitung“ im Jahr 1917, der Gründung und dem Vorsitz des „Vereins der Wolgadeutschen“ (ab 1919 in Berlin) bis hin zum Vorsitzenden und Sprecher der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland von 1952 bis 1957. Er ist Verfasser von mehr als einem Dutzend Bücher und Einzelschriften – neben einer unzähligen Zahl von Beiträgen in Zeitschriften und Zeitungen verschiedener Länder. Unter Einbeziehung der bislang wenig bekannten Dokumente wird zurzeit eine Neufassung seiner Biographie mitsamt Publikationsliste vorbereitet.