Geschichte eines sowjetischen Traktors und seiner deutsch-mennonitischen Erfinder

Dokument des Monats

Auf der unten vorgestellten Zeichnung sehen Sie ein einfaches, beinahe primitives Gefährt, den Traktor der Marke Saporoschez. Dieser ging in die Geschichte als erster sowjetischer Traktor ein, der serienmäßig produziert wurde. Die Anfertigung begann 1923 und lief bis 1927; insgesamt wurden davon 500 Stück (nach anderen Angaben 800 bis 900) hergestellt. Seine Entwickler, Ingenieure Leonhard Unger (1884-1937) und Gerhard Rempel (1885-1937), stammten aus der mennonitischen Siedlung namens Kitschkas (Einlage).

Der erste sowjetische Traktor „Saporoschez“, Zeichnung aus der Zeitschrift „Technika Molodeschi“ (etwa: Technik der jungen Generation), 1975

Geschichtlicher Rückblick

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bildete die Schwarzmeerregion das Zentrum des russischen landwirtschaftlichen Maschinenbaues. Die Landmaschinenindustrie im Russischen Reich erzeugte im Jahr 1911 Waren im Wert von 50.317.000 Rubel, davon fielen auf das Schwarzmeergebiet 27.210.000 Rubel, rund 54 Prozent des Gesamtwertes. Von den in der Statistik aufgeführten 164 südrussischen Fabriken befanden sich 66 in der Hand deutscher Siedler; der Jahresumsatz dieser Werke betrug 12.780.000 Rubel, d. h.  47 Prozent des Gesamtumsatzes in dieser wichtigsten Region. Man denke nur an die größte Pflugfabrik im Russischen Reich, die Johannes-Höhn-Pflugfabrik in Odessa, an die Landmaschinenfabriken Lepp & Wallmann in Chortitza oder an die Aktiengesellschaft „Handelshaus Ja. Koop – Werke für Landmaschinen und -inventar“ in Einlage (Kitschkas) – beide Ortschaften sind heute Teil der Stadt Saporoschje.

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Ein Brief aus Saratow (1922)

Beim Dokument des Monats „Mai“ geht es um den Briefwechsel zwischen zwei wolgadeutschen Intellektuellen, konkret um einen Brief aus dem Jahr 1922, dessen Inhalt wichtige Tendenzen des politischen, gesellschaftlichen und national-kulturellen Lebens der Wolgadeutschen widerspiegelt. Doch zunächst zu den Protagonisten: Der Verfasser des unten vorgestellten Briefes ist Georg Dinges (1891–1932). Sein Profil auf Russisch mit zahlreichen Fotografien finden Sie HIER.

Dinges war Philologe, Heimatforscher, Museologe und Ethnograph, einer der ersten Hochschullehrer aus der Mitte der Siedler-Kolonisten, ab 1923 Professor an der Universität Saratow. Er wurde 1891 im Dorf Blumenfeld, Gouvernement Samara, geboren. Nach der Absolvierung der Grimmer Zentralschule und des Ersten Saratower Knabengymnasiums studierte er von 1912 bis 1917 an der historisch-philologischen Fakultät der Moskauer Universität. Zusätzlich zur Professur leitete er ab 1926 das Zentrale Museum der deutschen autonomen Wolgarepublik in Pokrowsk (seit 1931 Engels) und hatte noch weitere Ämter inne. Außerdem nahm er an der Gründung und ferner am Lehrbetrieb der dortigen Deutschen Pädagogischen Hochschule aktiv teil.

Dinges wissenschaftlicher Schwerpunkt war die Mundartenerforschung. Seine erste Publikation 1923 finden Sie diesbezüglich HIER. Zudem arbeitete er mehrere Jahre an der Erstellung des wolgadeutschen Sprachatlasses.

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Hungerjahre im Zarenreich

Wir haben uns in diesem Thread gleichermaßen sowohl mit der Hungerkatastrophe der Jahre 1921-22 [HIER] als auch mit der Hungersnot 1932-33 in der Ukraine auseinandergesetzt [HIER].

Dabei ist es so, dass bereits vor 1917 im Zarenreich bspw. die Wolgaregion beinahe regelmäßig von starken Missernten und Hungersnöten heimgesucht wurde. Besonders davon betroffen war man in den Jahren 1872-1874, 1891-1893, 1905-1907, 1911/1912. Ein gravierender Unterschied zu den ähnlichen Ereignissen unter der bolschewistischen Herrschaft bestand darin, dass im Russischen Reich – bei allem Elend – mit einer Ausnahme keine Hungersopfer gar in Millionenhöhe gab. Bei den schlimmsten Misserntejahren 1891 und 1892 mit mehr als 30 Mio. Hungernden gab es Schätzungen zufolge etwa 500.000 Todesopfer, ca. 300.000 führen auf die ausgebrochene Cholera-Epidemie zurück.

Die insgesamt erfolgreiche Bekämpfung und Überwindung der Hungersnot in all den Jahren war darauf zurückzuführen, dass der von Liberalen bis zu Sozialisten so verhasste autokratische Staat keine Plünderungen der Bauern vornahm, sondern im Umkehrschluss eine starke Unterstützung bei der Not mit Speisungen, Kreditvergaben und Saatkorn leistete. Zum Überleben in der Notlage trugen auch die gesetzlich vorgeschriebenen gemeinnützlichen Getreidemagazine bei, die jede Bauerngemeinde während der guten Ernte aufzufüllen verpflichtet war. Auch kirchliche und private Wohltätigkeitsorganisationen engagierten sich bei der Unterstützung der leidenden Bevölkerung – so auch in den Hungerjahren 1906/07.

Eine von diesen Organisationen war das Komitee des evangelischen Feldlazaretts aus St. Petersburg, das in den betroffenen wolgadeutschen Gemeinden Mittel für Speisungen bzw. für Viehfutter und Speisekartoffeln bereitstellte. Insgesamt nicht weniger als 20.000 Siedler aus 21 Kolonien erhielten tatkräftige Hilfe. Nachstehend die Ausgabe der „Revalschen Zeitung“ vom 6. März 1907:

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Deutsches Generalkonsulat in Charkow zur Lage in der Ukrainischen Unionsrepublik …

Dokument des Monats: Aus dem Jahresbericht des Deutschen Generalkonsulats in Charkow, 1935

S. 1 des Berichts (weitere Auszüge s. unten)

Mit dem „Dokument des Monats“ März präsentieren wir Auszüge aus dem politischen Jahresbericht des Deutschen Generalkonsulats in Charkow zur Lage in der Ukrainischen Unionsrepublik, erstellt am 6. Dezember 1935. Charkow war bis Juni 1934 die Hauptstadt der Ukraine, und das Generalkonsulat verfügte entsprechend über eine erfahrene und fachkundige Personalbesetzung. Weitere deutsche Konsulate in dieser Republik gab es in Kiew und Odessa.

Ungeachtet der fast dreijährigen NS-Herrschaft in Deutschland zeichnet sich der Bericht durch eine ideologische Zurückhaltung und abgewogene Sachlichkeit aus, ausgenommen der Stellen, die sich mit der deutschen Minderheit in der Ukraine befassen. Das Auswärtige Amt blieb von der NS-Partei in der ersten Zeit offenbar weitgehend verschont, weil das NS-Regime eine Zeitlang auf den Rat der erfahrenen Diplomaten angewiesen war.

Viele Betrachtungen und Schlussfolgerungen in diesem Bericht erlauben einen fundierten Einblick in die inneren Verhältnisse in der Ukrainischen Sowjetrepublik. Der zentralen sowjetischen Staats- und Parteiführung sei es – unter anderem mithilfe der organisierten Hungerkatastrophe der Jahre 1932-1933 – weitgehend gelungen, zwei wichtige Gefahren für ihre Machtstellung zu unterbinden; sie brachen den Widerstand der Bauern und unterdrückten die ukrainische nationale Bewegung. Die Moskauer Machthaber konnten sich dabei auf eine breite Schicht der gefügigen Anhänger der neuen sozialistischen Ordnung sowohl auf dem Lande als auch (und vor allem) in der Stadt stützen.

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Schicksale hinter einer alten Fotografie

Dokument des Monats

Uns liegt ein seltenes Bild vor, das schätzungsweise Ende 1911, Anfang 1912 in Dorpat gemacht wurde (früher auch als Jurjew bzw. heute als Tartu in Estland bekannt, bis 1917 gehörte die Stadt zum Gouvernement Livland in Russland). Das Bild zeigt eine Gruppe von Studierenden der Universität Dorpat, die zugleich Mitglieder der Korporation Teutonia waren.

Mitglieder der Studentenverbindung „Teutonia“ (1911 oder 1912). Klicken Sie auf das Bild, um es zu vergrößern.

Diese Studentenverbindung ist für uns insofern von Bedeutung, weil sie im Zarenreich die einzige „klassische Korporation“ von Studenten war, welche dem einstigen „Kolonistenstand“ entstammten (ab 1871 sogenannte Siedler-Eigentümer, Teil der russischen Bauernschaft). Alma mater Dorpatensis, die Kaiserliche Universität Dorpat, spielte damals eine zentrale Rolle beim Entstehen der ersten akademischen Bildungsschicht unter deutschen Siedlern in Russland. Teutonia wurde am 17. Februar 1908 zunächst als sog. „Südländerverein“ gegründet und erst einige Monate später, am 4. Dezember 1908, in eine Korporation (Corps) umgewandelt. Die Aufnahme in den bereits bestehenden Chargierten-Convent, Verband der anerkannten studentischen Verbindungen in Dorpat, fand am 23. November 1912 statt.

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Deutsche Minderheitenliteratur auf der Anklagebank

Dokument des Monats

Die geistige und materielle Kultur der Deutschen in der UdSSR wurde nach 1941 fast komplett ausgelöscht. Lediglich Überreste dieses Kulturerbes weisen heute noch auf das einst vitale wirtschaftliche und kulturelle Leben dieser Minderheit in der Russischen Föderation und der Ukraine hin. Der fast ein Jahr lang andauernde Krieg in der Ukraine wird wohl unwiederbringlich die noch verbliebenen Spuren vernichten, weil die Frontlinie teilweise unmittelbar durch die einstigen Siedlungsgebiete der deutschen Minderheit verläuft.

David Schellenberg, Sowjetdeutscher Schriftsteller (1903-1954)

Allerdings begann die kulturelle Zerstörung wesentlich früher. So findet man heute Relikte des literarischen Erbes von ukrainisch-deutschen Literaten fast ausschließlich in den alten Strafakten. Bislang fehlen jegliche Hinweise auf die Existenz von Nachlässen auch nur eines einzigen sowjetdeutschen Literaten aus der Zwischenkriegszeit. In einer Reihe von politischen Strafprozessen der Jahre 1929–1936 wurden beinahe alle Schriftsteller, Zeitungs- und Zeitschriftenredakteure, Journalisten, Hochschullehrer, Übersetzer etc., d. h. die gesamte bis dahin kreativ wirkende „Intelligenz“ der deutschen Minderheit der Ukraine, verhaftet und abgeurteilt. Die wenigen übriggebliebenen auf Deutsch Schreibenden fielen dem großen Terror der Jahre 1937/38 zum Opfer.

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Ein Wahlkampf-Flugblatt aus dem Jahr 1937

Rubrik: Dokument des Monats

Anhand dieses interessanten Dokuments, eines Wahlflugblatts aus dem Jahr 1937, möchten wir auf die ersten Wahlen in den Obersten Sowjet der UdSSR näher eingehen. Nach der sowjetischen Verfassung von 1936 stellte diese Institution das höchste politische Organ der vermeintlichen Volksherrschaft dar. Die Wahl fand nach formalen demokratischen Prinzipen statt: auf der Grundlage eines allgemeinen, direkten und gleichberechtigten Wahlrechts in geheimer Abstimmung. In dem Flugblatt wird der Deputiertenkandidat Friedrich Scherer (1896 – ?) vorgestellt, der langjährige Vorsitzende eines der erfolgreichsten landwirtschaftlichen Betriebe in der wolgadeutschen autonomen Republik, der Woroschilow-Kolchose im Dorf Paulskoje, Kanton Marxstadt:

Wahlflugblatt, 1937 (c) GARF, Moskau

Mit einem Bevölkerungsanteil von 60,4% durften die Wolgadeutschen 11 Abgeordnetenmandate, d.h. die größtmögliche Anzahl der nach der Sowjetverfassung einer autonomen Republik zustehenden Sitze im Nationalitätensowjet (bzw. -rat), und zwei weitere Abgeordnetenmandate im Unionssowjet des Obersten Sowjets der UdSSR für sich beanspruchen. Da die Deutschen der sogenannten „Titularnationalität“ der autonomen Republik an der Wolga angehörten, wurden bei der ersten Wahl in den Obersten Sowjet insgesamt neun Abgeordnete aus ihren Reihen gewählt. Unter anderem folgende Personen:

  • Adolf Dehning (1907–1946), damals bekannter Stoß- und Stachanowarbeiter, Mähdrescherfahrer aus Mariental, von 1938 bis 1941 Vorsitzender des Vollzugskomitees desselben Kantons;
  • Anna Grünemeier (1907 – ?), Mathematiklehrerin und Leiterin einer Musterschule im Kanton Eckheim, u. a. „Dorfpropagandistin“. Sie war eine Absolventin der Deutschen Pädagogischen Hochschule von 1935 und galt in der Gegend u. a. als Beispiel für eine „freie deutsche Frau“.
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Diplom der Halbstädter Kommerzschule aus dem Jahr 1916

Das vorliegende Attest in dieser Form ist eine selten gut erhaltene Urkunde einer höheren Lehranstalt (Mittelschule) der Kommerzschule, die direkt von den deutschen Siedler-Kolonisten in ihrer Ortschaft errichtet und betrieben wurde. Doch was genau ist eine Kommerzschule? Nachstehend ein Beitrag über eine Kommerzschule in deutscher Sprache:

Halbstadt war eines der geistigen Zentren der deutsch-mennonitischen Bevölkerung im Russischen Reich. Mehrere höhere Bildungsanstalten, die dort und in anderen mennonitischen Ortschaften entstanden sind, legten ein beredtes Zeugnis über die wachsende Bedeutung der Bildung unter den deutschen Ansiedlern insgesamt und insbesondere unter der mennonitischen Landbevölkerung zu Beginn des 20. Jahrhunderts dar.

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Bakteriologische Diversion aus dem Jahr 1938

Zu den „klassischen“ Beschuldigungen in militärischen und ideologischen Auseinandersetzungen zwischen einzelnen Staaten oder Staatenbünden gehört seit jeher die Bezichtigung der gegnerischen Seite, dass sie plant bzw. bereits Vorbereitungen getroffen hat, Massenvernichtungswaffen einzusetzen. Das jüngste Beispiel sind die Vorwürfe der Russländischen Föderation an die Ukraine, biologische Geheimlaboratorien zu unterhalten und an biologischen (bakteriologischen) Waffen zu arbeiten.

In solchen Beschuldigungen, die sich allerdings nicht selten an die Adresse der eigenen Bürger richten, hat Russland bzw. der Vorgängerstaat, die UdSSR, reichlich Erfahrung. Bereits vor 85 Jahren, während des „Großen Terrors“ der Jahre 1937-38, lautete einer der Anklagepunkte, insbesondere gegen die Ärzte, wie folgt: „Vorbereitung einer biologischen Diversion“. Dies musste unter anderem der Mediziner Wilhelm Bauer (1885-1938) am eigenen Leib erfahren, der in Kaltschinowka, im einstigen deutschen Siedlungsgebiet Grunau, Kreis Mariupol im Schwarzmeergebiet, geboren wurde. Er hat die angesehene Universität Dorpat absolviert und arbeitete in der Ukrainischen Unionsrepublik, zuletzt als Oberarzt im Krankenhaus Molotschansk, dem damaligen Zentrum des deutschen Nationalrayons Molotschansk (Informationen auf Russisch zum Nationalrayon finden Sie HIER). Zusammen mit drei weiteren Leidensgenossen, Vertretern der örtlichen deutschen Intelligenz, wurde er am 9. Juni 1938 verhaftet und am 28. September 1938 durch einen Dreierausschuss (Troika) des Innenministeriums NKWD zum Tod durch Erschießen verurteilt.

Neben solchen absurden Anklagepunkten wie Mitgliedschaft in einer „konterrevolutionären spionage- und Sabotageorganisation“ oder Aufstellung von „Sturmgruppen zur Durchführung von Terroraktivitäten“ lautete einer der wichtigsten Anklagepunkte: „Vorbereitung einer Diversionsgruppe, um bakteriologische Sabotageaktionen vorzunehmen“. Siehe nachstehend das Urteil des Sondergremiums des NKWD:

Das NKWD-Urteil gegen Wilhelm Bauer vom 28. September 1938.

Die deutsche Übersetzung des NKWD-Urteils gegen Wilhelm Bauer vom 28. September 1938 können Sie unter dem nachstehenden Downloadbutton herunterladen:

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Einer von Hunderttausenden, die nicht gebrochen wurden: Das bemerkenswerte Leben von Leopold Kinzel (1922-2020)

Leopold Kinzel, der Verfasser der unten verlinkten Erinnerungen, ist am 19. August 1922 im Dorf Neubauer, Kanton Krasny Kut in der Wolgadeutschen Republik, zur Welt gekommen. Seine Familie lebte für eine längere Zeit im Kantonzentrum Krasny Kut. Da sein Vater ein staatlicher Angestellter war, musste er einige Male den Arbeitsplatz wechseln, sodass Leopold sowohl deutsch- als auch russischsprachige Schulen besuchte und dementsprechend beide Sprachen perfekt beherrschte. Nach der Absolvierung der Mittelschule im Juni 1940 wurde L. Kinzel in die Armee eingezogen und in eine Offizierschule nach Uljanowsk geschickt. Allerdings wurden er und einige deutsche Kursanten Anfang September 1941 von dieser militärischen Lehranstalt relegiert. Er folgte seinen Eltern in die Verbannung in die Region Altai. Dort arbeitete er einige Monate als Nachtwärter im Pferdestall.

Auf dem Foto sehen Sie Leopold Kinzel (links) mit seiner Mandoline und Alfred Renz (rechts) mit seiner Mundharmonika (2012). Foto: Mathias Wiedemann.

Im Januar 1942 wurde L. Kinzel zur Zwangsarbeit in das Holzfällerlager Iwdel im Norden des Gebiets Swerdlowsk im Ural mobilisiert. Dieses Lager beherbergte 17.827 Zwangsarbeiter – mehr als 95 Prozent davon waren Deutsche. Offiziell hieß dieser Einsatz beschönigend „Arbeitsmobilisierung“, umgangssprachlich „Trudarmija“ (Arbeitsarmee). Seinen Vater und Bruder ereilte dasselbe Schicksal. Im Lagerpunkt „Taliza“ musste Leopold mit den deutschen Leidensgenossen unter schwersten Bedingungen mit miserabler Bekleidung und schlechter Ernährung sowie Frosttemperaturen von bis zu minus 45 Grad im tiefen Schnee Holz fällen. Wegen Unterernährung und Erschöpfung starben viele seiner Kameraden. Nach offiziellen Angaben gab es 2.890 Todesfälle zu verzeichnen.

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Heute wie vor 100 Jahren: Eine Informationsbroschüre des „Fürsorgevereins für deutsche Rückwanderer“ (Berlin, 1917).

In unserem Archiv gibt es eine kleinformatige Broschüre mit der Überschrift „Was sollte jeder Deutsche von unseren deutschen Volksgenossen in Rußland wissen? Merkworte“, hrsg. vom Fürsorgeverein für deutsche Rückwanderer. Berlin 1917, Umfang 16 Seiten.

Der Fürsorgeverein wurde 1909 von der Preußischen Staatsregierung ins Leben gerufen, mit dem Ziel, vornehmlich deutsche Bauern aus dem Russischen Reich als Landarbeiter für die östlichen Provinzen (Ostpreußen, Posen u. a.) zu gewinnen. Oder wie es im sprachlichen Duktus der damaligen Zeit hieß: … „sich der von ihrer eigenen Regierung mißhandelten Deutschrussen hilfreich anzunehmen und ihre Eingewöhnung im alten Stammlande zu unterstützen.“

Vor dem Ersten Weltkrieg waren es nicht weniger als 30.000 Rückwanderer, die – von „dem Mutterlande gewonnen“ – größtenteils aus polnischen Gouvernements des Russischen Reiches oder aus Wolhynien stammten (vgl. Borchardt, Alfred, Deutschrussische Rückwanderung, Berlin 1915).

Die Übersiedlungen einzelner deutscher Bauern ins Deutsche Reich waren demnach bereits zu Beginn des 20. Jh.  keine Seltenheit. Diese Rückwanderungswelle erfasste allerdings kaum die sogenannten „Siedler-Kolonisten“ an der Wolga oder im Schwarzmeergebiet. Wenn die Letzteren sich entschlossen hatten, das Russische Reich zu verlassen, dann ging es vorzugsweise in Richtung USA und sonstige Überseestaaten. Sie erhofften sich, dort ausreichend Land zu erwerben, eigene Siedlungen zu gründen und ihre gewohnte Lebensweise fortführen zu können.

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Rehabilitierung der Wolgadeutschen: Ein Brief von Pastor Schleuning

Im aktuellen Dokument des Monats handelt es sich um den Entwurf eines Briefes von Johannes Schleuning, Pastor und Superintendent i. R., den er im Februar 1957 an den sowjetischen Botschafter in Bonn, Andrei Smirnow, adressierte.

Der Entwurf stammt aus dem persönlichen Nachlass von Johannes Schleuning. Archiv der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland [https://lmdr.de/]

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Ein Dokument der Diskriminierung während des Ersten Weltkriegs

Allbekannt sind massive Verfolgungen und Diskriminierungen der deutschen Minderheit in der UdSSR während des Zweiten Weltkrieges – im Verlauf des sog. „Großen Vaterländischen Krieges“ 1941–1945. Dagegen sind die schon während des Ersten Weltkrieges im Zarenreich ergriffenen antideutschen Maßnahmen wesentlich weniger bekannt, weil sie zugegebenermaßen noch nicht so gravierend waren. Jedoch wurden sie von den Zeitgenossen spürbar wahrgenommen und führten zu Enttäuschung und Verbitterung.

Dokument 1 (Vorderseite)

Am Beispiel von Georg Rath (* 19. Oktober 1891; † 6. März 1977) lässt sich ein kleiner Aspekt dessen veranschaulichen. Er wurde im Gouvernement Cherson, in der deutschen Siedlung Kujalnik (Nesselrode) geboren, schloss das Gymnasium in Ananjewsk ab und ließ sich im August 1912 an der Universität Dorpat immatrikulieren. Dort studierte er vornehmlich Theologie und wurde Ende Juli 1916 einberufen – der Erste Weltkrieg war währenddessen im vollen Gange. Als Student durfte er einen Lehrgang zu einer Offiziersausbildung aufnehmen und trat in die Odessaer Militärschule ein (siehe DOKUMENT 1 [1] mit der entsprechenden deutschen Übersetzung [2]). Nach nicht einmal zwei Ausbildungsmonaten als Offiziersanwärter (Russisch: Junker) musste er die Lehranstalt verlassen und in einem Reserve-Infanterie-Regiment als Soldat antreten.

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Eine historische Blaupause vor 83 Jahren: Wie Stalin Finnland unterwerfen wollte (Teil 2)

Im zweiten Teil unserer Dokumentation durchleuchten wir weitere interessante Einzelheiten des sowjetisch-finnischen Krieges (Winterkrieg) 1939/40: Wie wurde dieser Krieg in den offiziellen Massenmedien anhand der zeitgenössischen Berichte dargestellt und welche Parallelitäten weist er zu dem heutigen Vorgehen Russlands gegen die Ukraine auf? [1] Als Quelle dienen uns (wie bereits in den Dokumentationen  zuvor) die offiziellen Verlautbarungen der Zeitungen „Prawda“, „Iswestija“ u. a., die übersetzt in der deutschsprachigen Zeitung „Nachrichten“ aus der Wolgadeutschen Republik erschienen.

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Eine historische Blaupause vor 83 Jahren: Wie Stalin Finnland unterwerfen wollte

Dieses Dokument bzw. (in diesem Fall) diese Dokumentation des Monats ist außergewöhnlich. Es wird illustriert, dass die gerade stattfindenden gravierenden Ereignisse in der Ukraine keineswegs im luftfreien Raum entstanden und nur kaum aus aktuellen Entwicklungen oder Verlautbarungen der handelnden Personen zu erklären sind. Solche Großgeschehen – wie der anhaltende russische Angriff auf die Ukraine – können ohne historisches Hintergrundwissen kaum angemessen verstanden werden.

Von welchen Vorbildern lässt sich z. B. das Handeln des russischen Präsidenten ableiten? Er selbst sieht sich in der Tradition des heroischen Kampfes gegen Faschismus (heute: Nazismus). Demnach will er die Ukraine „denazifizieren“ und „entmilitarisieren“. In vielen westlichen Publikationen werden andersherum Parallelitäten zu dem Angriff des Deutschen Reichs am 1. September 1939 gezogen und das Agieren des russischen Staatsoberhaupts mit dem des damaligen Reichskanzlers verglichen.

Wer sich jedoch in der sowjetischen Geschichte auskennt, kommt unweigerlich zu dem Schluss, dass eher Stalin und seine Politik Wladimir Putin als Vorbild und nachahmenswertes Beispiel dienen. Sein Vorgehen erinnert einerseits an die Befreiungsrethorik, mit der die UdSSR im September 1939 Polen überfallen hat und andererseits an die Einverleibung der baltischen Staaten.

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Der Friedensnobelpreisträger Andrei Sacharow und die Russlanddeutschen

Die Erforschung der Geschichte des nonkonformistischen Denkens und oppositioneller Bewegungen, des gewaltlosen Widerstandes im sowjetischen Unrechtsstaat ist und bleibt ein wichtiges Anliegen des Bayerischen Kulturzentrums der Deutschen aus Russland (BKDR). Dazu gehören unter anderem das Sammeln, Aufbewahren, die öffentliche Zugänglichmachung und Präsentation von Dokumenten verschiedener Art, sei es behördlicher oder privater Natur, die den friedlichen Kampf der Sowjet- bzw. Russlanddeutschen um ihre Bürgerrechte in der UdSSR anschaulich machen. Es sind Briefe und Tagebücher, Appelle und Bittschriften, Erinnerungen und Zeitzeugenberichte, Schriften und Periodika der Untergrundbewegung, audio- und audiovisuelle Zeugnisse und vieles mehr. Vor Kurzem überließ uns Eduard Deibert, ein bekannter Aktivist der Ausreisebewegung der Deutschen in der UdSSR und unermüdlicher Kämpfer um ihre Rechte sowohl in der Sowjetunion als auch in der Bundesrepublik, einen wesentlichen Teil seines umfangreichen Nachlasses. Daraus möchten wir nun einige relevante Dokumente öffentlich präsentieren.

Andrei Sacharow mit seiner Frau Jelena Bonner (1974)

Als Erstes zeigen wir Ihnen ein Bild, auf dem Andrei Sacharow, der weltberühmte Physiker, ehemaliges Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, Vorkämpfer für die Menschenrechte und Friedensnobelpreisträger, zusammen mit seiner Frau Jelena Bonner abgelichtet ist. Auf der Rückseite befindet sich Sacharows persönliche Widmung, die an Friedrich Ruppel adressiert ist. Dieses Bild mit der Widmung wird nun zum ersten Mal öffentlich zugänglich gemacht.

Der berühmte Regimekritiker nahm sich immer wieder auch dringender Anliegen der unterdrückten Sowjetdeutschen an und unterstütze sie bei ihren Aktivitäten tatkräftig. Wie z. B. Friedrich Ruppel, der einst prominenter Dissident und Herausgeber des Samisdat-Almanachs mit dem Titel „Re-Patria“ war.

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Vertriebenenausweis: Ein Meilenstein auf dem Weg zur Wiedergutmachung

Hinter diesem äußerlich so unauffälligen Dokument verbirgt sich eine dramatische Geschichte von Millionen von Menschen – unter ihnen auch die von Hunderttausenden einstigen Einwohnern der UdSSR sowie ihrer Nachfolgestaaten.

Vorderseite des Vertriebenenausweises
Rückseite des Vertriebenenausweises

Emilie Hasert wurde 1925 in einer deutschen Siedlung in Georgien geboren. 1941 wurde sie nach Kasachstan deportiert und musste anschließend Zwangsarbeit leisten. Nach 1955 zog sie nach Südkasachstan und durfte im April 1978 mit ihrem Mann nach Westdeutschland ausreisen. Der Ausweis für Vertriebene und Flüchtlinge diente als Grundlage für die Entscheidung zur Verleihung der deutschen Staatsangehörigkeit. Ausweis A wurde dem als Aussiedler anerkannten Antragsteller ausgehändigt; Ausweis B den andersethnischen Familienangehörigen.

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Politische Strafprozesse in der „liberalen“ Chruschtschow-Ära: Der Fall Wladimir Hoffmann (1957)

Das Dokument des Monats November 2021 spiegelt eines der wichtigsten Kapitel der Nachkriegsgeschichte der deutschen Minderheit in der UdSSR wider: Die Bewegung zur Ausreise in der Bundesrepublik Deutschland zum Zwecke einer „ständigen Wohnsitznahme“ (vyesd na postojannoje mesto shitelstwa), so im sperrigen Amtsrussisch.

Erste Seite des Beschlusses der Staatsanwaltschaft der RSFSR, Abteilung für Aufsicht, über Ermittlungen in den Organen der Staatssicherheit in der Strafsache von Wladimir Hoffmann, 12. Juni 1958.
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„Kergiesermichel“ als Nationalepos der Wolgadeutschen

Titelbild des Druckes über den „Kergiesermichel“ aus dem Jahr 1861.

Im historischen Gedächtnis der Wolgadeutschen nimmt die erste Ansiedlungszeit in der Nähe zum zentralasiatischen Raum einen besonderen Platz ein. Die Kolonisten mussten sich vollkommen anderen – als in der alten Heimat vorherrschenden – politischen, sozialen, geographischen und klimatischen Bedingungen stellen und erlebten anfänglich zahlreiche Schwierigkeiten und Entbehrungen bis hin zu Todesfällen. Dazu kam der Umstand, dass die Grenzen zu den Nomadenreichen im Süden des Russischen Reiches bis Anfang des 19. Jahrhunderts noch nicht gesichert wurden. Aus diesem Grund waren deutsche Siedler an der Wolga fast zwei Jahrzehnte lang gleich nach ihrer Ankunft zahlreichen Überfällen der kriegerischen kalmückischen und kirgisischen (kasachischen) Nomadenstämme ausgesetzt. Diese Ereignisse bildeten eine tiefe Zäsur in ihrem Leben und haben sogar Eingang in die Folklore und Literatur gefunden.

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Eine Tischmedaille: In Erinnerung an eine berühmte deutsche Kolchose in Kasachstan

Für die Septemberausgabe des „Dokument des Monats“ wurde diesmal nicht wie üblich ein Schriftstück, sondern ein aufschlussreicher Gegenstand aus unserer Sammlung gewählt. Es handelt sich um eine sogenannte „Tischmedaille“, die an den berühmten landwirtschaftlichen Betrieb in der einstigen UdSSR, der Kolchose „30 Jahre der Kasachischen Unionsrepublik“, Gebiet Pawlodar (Kasachstan) sowie an ihren legendären Leiter, dem „Held der sozialistischen Arbeit“, Jakob Häring (Gering) erinnert. Die meisten Beschäftigten waren Deutsche, sodass dieser Agrarbetrieb sowohl in der öffentlichen Wahrnehmung als auch im Selbstverständnis der Betroffenen als „deutsche Kolchose“ fungierte.

Vorderseite der Tischmedaille „30 Jahre der Kasachischen Unionsrepublik“
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