Vor uns liegt ein bemerkenswertes Dokument aus den Federn eines inhaftierten wolgadeutschen Kommunisten, der während seiner Haft (!) im Jahr 1945 die Politik der Sowjetführung gegenüber ihren deutschen Bürgern unverhohlen missbilligte. Sich in solch einer prekären Situation dermaßen kritisch zu äußern, war ziemlich mutig.
Die (hand-)schriftliche Aussage von Iwan (Johann) Becker (verfasst auf zwei Seiten).
Hier finden Sie die deutsche Übersetzung zu den oben angeführten Aussagen von Iwan (Johann) Becker:
Die Auswanderung stellte in der Geschichte der russlanddeutschen Minderheit stets ein bewährtes Mittel dar, den als unzumutbar und bedrückend empfundenen sozioökonomischen oder politischen Bedingungen des Heimatlandes zu entkommen. Während in der Zeit vor 1914 v.a. sozioökonomische Faktoren dominierten, verlagerte sich nach der bolschewistischen Machtergreifung hingegen die Motivation zur Auswanderung in den politisch-gesellschaftlichen Bereich. Die kommunistischen Machthaber, die großen Wert auf außenpolitische Geltung legten und eine welthistorische Überlegenheit der neuen gesellschaftlichen Ordnung proklamierten, betrachteten ein Auswanderungs- bzw. Ausreisebegehren von Anfang an als besonders schwerwiegende antisowjetische Tat. Bis Mitte der 1980er Jahre wurden derartige Bestrebungen nicht nur mit propagandistischen, sondern nicht selten auch mit strafrechtlichen Mitteln bekämpft.
Eine besonders starke Auswanderungsbewegung entstand in den deutschen Siedlungen der UdSSR Ende der 1920er Jahre als Protest gegen die Zwangskollektivierung, die Verbannung von wohlhabenden Bauern – der sog. Kulaken – sowie die Verfolgung der Religion. Einer von vielen öffentlichen und v.a. geheimen Prozessen dieser Jahre stellt die Strafsache gegen sechs Personen aus der Siedlung Zebrikowo („Hoffnungstal“), die sich im Bezirk (ab September 1930: Gebiet) Odessa befand, dar:
Schirozki, Wadim (geb. 1894), Rechtsanwalt;
Krause, Karl (1877), Privathandwerker, ehem. Gutsbesitzer;
Krause, Eduard (1882), beschäftigungslos, Sohn eines Gutsbesitzers;
Krause, Georg (1911), Privathandwerker, Sohn von K. Krause;
Keller, Andrej (1872), Privatbauer, ehem. Gutsbesitzer;
Hick, Wilhelm (1887), Sohn eines wohlhabenden Bauern, Inhaber eines PKWs, Privatbesitzer.
In der Fortsetzung unserer Beschäftigung mit dem düsteren Kapitel der russlanddeutschen Geschichte – dem 80. Jahrestag des Beginns der Verfolgung und Diskriminierung der „Sowjetbürger deutscher Nationalität“ – publizieren wir mit dem Dokument des Monats „Mai“ einen Brief aus einem Zwangsarbeitslager, den Oskar Schulz am 5. Februar 1944 geschrieben hat.
Frontbild eines Auszuges des Lagerbriefes von Oskar Schulz (1944).
Oskar Schulz ist am 16. Januar 1927 im deutschen Dorf Heimtal, Wolhynien, geboren. 1935 wurde die Familie dazu gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Sie wurden zunächst auf die Krim ins deutsche Dorf Zürichtal und danach nach Kasachstan gebracht.
Im Januar 1943 wurde der gerade einmal 16-jährige Oskar zur Zwangsarbeit ins Erdölkombinat „Kasneftkombinat“ ausgehoben, das sich am Kaspischen Meer befand. In einer „Kinderbrigade“ der erst 15- bis 16-jährigen Deutschen musste er schwere Erdarbeiten in den Förderfeldern „Dossor“ und „Makat“ verrichten. Er rettete sich durch eine gelungene Flucht sowie einem zeitweiligen Aufenthalt unter dem Namen eines Russen mit tatarischen Wurzeln. Sein Name während dieser Zeit: Geltzow, Askat.
Das Jahr 2021 ist für die Geschichte der Russlanddeutschen weltweit nicht nur der 100. Jahrestag des Beginns einer Hungerkatastrophe, die unzählige Menschenleben gefordert hat. Eine noch verheerendere Wirkung zeigte die 20 Jahre später erfolgte totale Deportation der gesamten deutschen Bevölkerung der UdSSR, die den Auftakt zu ihrer jahrzehntelangen Verfolgung, Entrechtung und Diskriminierung bildete.
„Kehrt die Bajonette gegen Eure Unterdrücker“ – Aufrufe der wolgadeutschen Intelligenz und der Kolchosbauern an die deutschen Geistesarbeiter, „versklavte Werktätige“ und Wehrmachtssoldaten, aus Nachrichten, Nr. 164 v. 15. Juli.
Mit der vorliegenden Dokumentation beginnen wir, wenig bekannte zeitgeschichtliche Dokumente zur Lage der „Sowjetbürger deutscher Nationalität“ sowohl während als auch nach dem „Großen Vaterländischen Krieg“ 1941-45 zu präsentieren. Der Angriff NS-Deutschlands auf die UdSSR fand bekanntlich am 22. Juni 1941 statt. Die Sonderbehandlung der Deutschen in der Sowjetunion begann vollends erst ab der Verkündung des Deportationserlasses etwa zwei Monate später am 30. August. In der Zwischenzeit lebten sie in einer „Kriegsnormalität“. Ihre Lage glich weitestgehend der Lage der anderen Sowjetvölker, die sich im Machtbereich des bolschewistischen Staates befanden.
Wir setzen unsere Beschäftigung mit dieser von harter bolschewistischer[1] Hand verursachten Katastrophe fort – siehe „Dokument des Monats Januar 2021“ – und präsentieren nun weitere zeitgenössische Quellen, welche die Reaktionen im Deutschen Reich auf dieses Ereignis veranschaulichen. Insbesondere das Schicksal der deutschen Siedler-Kolonisten an der Wolga und in der Ukraine, die nach dem Wortlaut einer Handreichung „in dieses furchtbare Hungerelend hereingerissen“ wurden, rief große Anteilnahme in den breiten Schichten der deutschen Gesellschaft hervor. Was an den Inhalten aus diesen vergilbten Blättern aus heutiger Sicht so bemerkenswert erscheint, ist die Tatsache, dass dort praktisch jegliche Kritik an der Politik der neuen Machthaber, jegliche antikommunistische Anklage, sogar in den intern verfassten Papieren, fehlte. In der Hinsicht unterscheiden sie sich gravierend von den Zeitzeugnissen ähnlicher Ereignisse nur ein Jahrzehnt später. Oft war in diesen Jahren die Kritik der sozialistischen Gesellschaftsordnung und Politik, der sowjetischen Regierung und bolschewistischen (kommunistischen) Partei mit Stalin an der Spitze als Hauptverantwortlicher für das massenhafte Hungerelend und -sterben der Jahre 1932–34 nicht zu überhören.
Bei den vorliegenden historischen Überlieferungen handelt es sich v. a. um Unterlagen des Reichsausschusses „Brüder in Not“, der sich 1922 als Zusammenschluss mehrerer karitativer Organisationen und politischer Verbände in Berlin organisierte. Dieser Ausschuss hatte zum Ziel, vielfältige Aktivitäten und zahlreiche Hilfeaktionen „für die hungernden Russlanddeutschen“ zu koordinieren und zu bündeln. Die vom Ausschuss betreute Reichssammlung „Brüder in Not“ diente als Anlaufstelle für Geld- und Sachspenden. Der Ausschuss setzte seine Tätigkeit auch in den stark politisierten 30er Jahren fort. Die Adressaten seiner Hilfsaktionen in der UdSSR mussten allerdings – im Unterschied zu den 1920er Jahren – mit Diffamierungen (Empfänger von „Hitler-Hilfe“[2]), gesellschaftlichen Restriktionen und sogar strafrechtlichen Verfolgungen rechnen. Der griffige Slogan „Brüder in Not“ steht noch heute sinnbildlich für humanitäre Aktionen.[3]
Nachfolgend finden Sie alle vom BKDR zur Verfügung gestellten Dokumente:
Beim Dokument des Monats Februar handelt es sich um die originale Fassung der Untergrundzeitschrift „Bulletin der Verwandten von Inhaftierten der ev. Christen-Baptisten in der UdSSR“ Nr. 38 aus dem Jahr 1976. Diese Hefte wurden vom Zentralrat der Kirchen der Initiativ-Baptisten illegal in unregelmäßiger Folge zusammengestellt, hektographisch vervielfältigt und nicht nur unter den Glaubensbrüdern selbst, sondern auch unter Dissidenten verteilt und in den Westen geschmuggelt.
Titelseite der „Bulletin der Verwandten von Inhaftierten der ev. Christen-Baptisten in der UdSSR“ Nr. 38 aus dem Jahr 1976.
Die Organisation entstand 1961 im Zuge der Abspaltung von dem offiziell existierenden, legalen Bund der Baptisten in der UdSSR. Die sog. Initiativ-Baptisten lehnten die sowjetische Kirchenpolitik sowie den staatlichen Atheismus ab, forderten eine Nichteinmischung in die kirchlichen Angelegenheiten, praktizierten trotz gesetzlicher Verbote die Unterweisung der Kinder in der Glaubenslehre und zeichneten sich durch aktive Missionierung aus.
Das Jahr 2021 steht nicht nur im Zeichen des Gedenkens an den 80. Jahrestag der Deportation der deutschen Bevölkerung der UdSSR. Eine nicht minder wichtige Bedeutung wird dem 100. Trauerjubiläum des Beginns der verheerendsten Hungersnot in der Geschichte der russlanddeutschen Minderheit beigemessen. Die Hungerkatastrophe der Jahre 1921-1922 suchte vor allem die russischen Gouvernements und nationalen Gebiete (Tatarstan, Baschkirien u.a.) entlang des Wolga-Flusses heim, betraf zusätzlich auch angrenzende Gebiete in Kasachstan, im Südural, Nordkaukasus und in der Ukraine. Dabei stellte die gerade 1918 entstandene Wolgadeutsche Autonomie eines der Gebiete dar, die am stärksten von der Hungersnot betroffen waren. Allein in diesen beiden Jahren sind unter den Wolgadeutschen mindestens 107,5 Tsd. Personen bzw. 27% der Einwohner des autonomen Gebiets (der Arbeitskommune) verhungert oder an Seuchen und Krankheiten elendig zugrunde gegangen. Siehe dazu: Bürgerkrieg und Hungersnot in der Wolgadeutschen Republik. Tausende und abertausende deutsche Siedler verhungerten in der Ukraine und auf der Krim, im Nordkaukasus und in Kasachstan. Insgesamt kostete diese humanitäre Katastrophe dem Sowjetstaat nicht weniger als 5 Mio. Menschenleben.
Der berühmte russische Schriftsteller Wladimir Galaktionowitsch Korolenko (1853‒1921) war nicht nur ein vielgelesener Autor und begnadeter Publizist. Vor allem sein Auftreten gegen jegliche Art von staatlicher Willkür brachte ihm die ehrenvolle Bezeichnung „Russlands Gewissen“ ein. Große Anerkennung weltweit erwarb der Schriftsteller durch eine aktive Verteidigung der udmurtischen (Multan-Affäre, 1892–1896) und jüdischen (Bejlis-Affäre, 1911–1913) Bevölkerung in Ritualmordprozessen.
Kaum bekannt ist dagegen sein Auftreten im Jahr 1916, inmitten der erbitterten militärischen Auseinandersetzungen zwischen dem Deutschen und dem Russischen Reich, zugunsten der verfolgten und diskriminierten „russischen Deutschen“. Bezeichnend ist hierbei ein Brief (alten Stils) von Wladimir Korolenko an Karl Lindemann vom 26. Oktober 1916, der in der Handschriftabteilung der Russländischen Staatsbibliothek in Moskau aufbewahrt ist und uns als Rohschrift vorliegt. Untenstehend die erste und vierte Seite dieses einmaligen Dokuments, das hiermit zum ersten Mal (vorerst nur teilweise) veröffentlicht wird:
Karl Lindemann war Professor an der Landwirtschaftlichen Akademie in Moskau und stellte eine der wenigen Personen des öffentlichen Lebens dar, die gegen die germanophobe Hysterie und gesellschaftspolitische Diskriminierung der deutschen Siedler-Kolonisten protestiert hatten.
Hierzu schrieb er einige Bücher – eines davon schickte er Korolenko und bat ihn, zur ganzen Problematik Stellung zu nehmen.[1] In seiner Antwort schrieb ihm der Schriftsteller in seiner vorbehaltslosen Verurteilung des deutschfeindlichen gesellschaftlichen Klimas u.a.:
Das Bayerische Kulturzentrum der Deutschen aus Russland (BKDR) bewahrt mehr als ein Dutzend Zeitzeugenberichte von deutschen Zwangsarbeitern auf, die in der sowjetischen Kriegswirtschaft in den Jahren 1941-1946 eingesetzt wurden. Zahlreiche Dokumente werden noch immer aufbereitet, um sie der breiten Öffentlichkeit zugänglich machen zu können. Einer dieser Zeitzeugenberichte stammt dabei aus den Federn von Rudolf Romberg (1924-2003).
Er wuchs in der deutschen Siedlung Marinowka auf, die 1902 in der kasachischen Steppe von Übersiedlern aus Wolhynien gegründet wurde. Von September 1940 bis November 1941 studierte Romberg an einer medizinischen Fachschule in Kustanai/Kasachstan. Anschließend wurde er im Zuge der sogenannten Städtesäuberungen wie viele andere Deutsche in eine ländliche Siedlung verwiesen. Von dort aus erfolgte im März 1942 die Einweisung ins Zwangsarbeitslager Tscheljabmetallurgstroj (TschMS) des NKWD der UdSSR in der Nähe der Stadt Tscheljabinsk im Ural, das zum Bau eines riesigen Eisenhüttenkombinats errichtet wurde. Zunächst musste er Erdgruben ausheben, bevor man ihn ab Juni 1942 als Sanitätsgehilfe in verschiedenen Bautrupps des Lagers bis Oktober 1946 eingesetzt hatte. Danach bekam Romberg den Status eines Sondersiedlers und befand sich von nun an zwar nicht mehr hinter Stacheldraht, stand aber als Sondersiedler noch bis Januar 1956 unter Kommandanturaufsicht und war in seiner Wohnorts-, Arbeits- und Berufswahl sehr stark eingeschränkt.
Lange Zeit nach dem Krieg mussten die Deutschen in der Sowjetunion unter starken Diskriminierungen bezüglich des Zugangs zur akademischen Bildung leiden. Dies lässt sich statistisch nachweisen:
Eines der wenigen Studienfächer, in dem die Deutschen aus Russland seit Ende der 1950er Jahre relativ stark vertreten waren, war die Ausbildung zum/zur Deutschlehrer/in. Das untenstehende Bild zeigt die Absolventen (des Jahrgang 1960) der Fernabteilung der Fakultät der Fremdsprachen des Pädagogischen Instituts in Alma-Ata, der damaligen Hauptstadt der Unionsrepublik Kasachstan. Eigentlich war diese Fakultät seit 1941 eine eigenständige Pädagogische Hochschule für Fremdsprachen, die in den Jahren 1958-1961 jedoch ihre Selbständigkeit verloren hat. Ab 1963 bildete die deutsche Abteilung des Fremdspracheninstituts auch LehrerInnen für den muttersprachlichen Deutschunterricht aus.
Die Dokumentensammlung des Kulturzentrums ist unlängst um ein aufschlussreiches Zeitdokument aus den 1930er Jahren reicher geworden. Es handelt sich um ein Zeugnis (Diplom) des Deutschen (Agro-)Pädagogischen Instituts (DPI), auch Deutsches Pädinstitut genannt, aus dem Jahr 1932, ausgestellt für Konrad Kober. Diese Hochschule war die erste akademische Bildungseinrichtung in der Autonomen Wolgadeutschen Republik und feierte 1932 ihre ersten Absolventen.
Umschlag des Diploms.
Zweisprachige Innenseite des Diploms.
Über den jungen Akademiker Konrad Kober ist bislang recht wenig bekannt. Er wurde 1908 im Dorf „Schäfer“, zu Sowjetzeiten Kanton Krasnojar, in der Familie des einstigen Dorfältesten Johannes Kober geboren. Nach der Absolvierung des DPI arbeitete er als Lehrer. Zusammen mit seinen vier Brüdern und Schwestern wurde Konrad mit seiner Frau und drei Kindern 1941 nach Sibirien deportiert. Er kam in einem Zwangsarbeitslager während eines Grubenunglücks um.
Die Bibliothek des Bayerischen Kulturzentrums der Deutschen aus Russland beherbergt einen schmalen Band aus der Inselbücherei mit der Erzählung von Werner Kortwich: Friesennot, 1938,Taschenbuchformat, vergrößerte Schrift, 78 Seiten. Die erste Ausgabe erschien 1933 mit einer Auflage von 10.000 Exemplaren. Es folgten weitere Ausgaben, sodass bis 1938 insgesamt mindestens 75.000 Einzelstücke gedruckt wurden.
Worum geht es in diesem Werk? Es geht um das im Dritten Reich geradezu obsessiv verfolgte Thema des „Auslandsdeutschtums“, genauer gesagt um das Schicksal der Deutschen in der bolschewistischen Sowjetunion. Es wird am Beispiel eines friesisch-mennonitischen Dorfes irgendwo „inmitten der dichtesten Wälder und Sümpfe westlich der Wolga“ (sic!) dargelegt.
Der Inhalt der Erzählung bildet eine krude Mischung aus erfundenen Lebensumständen und propagandistischen Klischees über die Leiden der „Friesen“ unter dem bolschewistischen Regime, die mit einigen überzeichneten, aber im Kern doch realen Gegebenheiten vermengt werden. Einen Eindruck der künstlerischen und historischen Qualität der Erzählung gewinnt man bereits anhand einer Leseprobe:
Bis Mitte der 1980er Jahre gab es in der UdSSR kaum Publikationen, die sich mit der Geschichte und Kultur der „sowjetischen Bürger deutscher Nationalität“ befassten. Hierzu gab es weder Forschungsinstitute, Bibliotheken, Archive, Dokumentationsstätten und Museen noch historische Vereine jeglicher Art. Wer auch nur versuchte, auf diesen eklatanten Missstand zu verweisen und eine öffentliche Auseinandersetzung mit der Problematik zu fordern, musste mit harten Konsequenzen bis hin zur strafrechtlichen Verfolgung rechnen. Stellvertretend dafür steht das Schicksal einer Gruppe von deutschen Intellektuellen aus Nowosibirsk, die 1982 in dieser Angelegenheit einen Appell an sowjetische Wissenschaftler richtete. Erst die begonnene Demokratisierung der sowjetischen Gesellschaft im Zuge von Glasnost und Perestroika hat auch in diesem Bereich ein Umdenken ausgelöst. Allerdings dauerte es noch einige Jahre, bis das Thema „Deutsche in Russland bzw. in der UdSSR“ ein gleichberechtigter Teil des öffentlichen Diskurses geworden war.
Beim BKDR werden interessante Zeugnisse zu den Anfängen der gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der nationalen Geschichte aufbewahrt. Es handelt sich um das Programmheft und die Einladung zur ersten offiziell zugelassenen Konferenz zur innerdeutschen Thematik seit 1941. Die Tagung „Die Deutschen in der Bruderfamilie der Sowjetvölker“ fand nach dem beinahe 50-jährigen öffentlichen Schweigen vom 16.-17. Juni 1989 in Alma-Ata, der damaligen Hauptstadt der Republik Kasachstan, statt. Die Einladung sowie das Programm sind in drei Sprachen gedruckt: Kasachisch, Russisch und Deutsch.
Ein weiteres Anliegen des Kulturzentrums besteht darin, seine zahlreichen, bislang kaum bekannten Schriften, die verstreut in schwer auffindbaren Zeitschriften und Zeitungen der 1920er – Anfang der 1930er Jahre veröffentlicht wurden, einem möglichst breitem Publikum zugänglich zu machen. Nachfolgend eine Liste der bereits digitalisierten Publikationen; weitere Veröffentlichungen werden folgen.
Monographie:
Studien über die Geschichte der Wolgadeutschen. Erster Teil. Seit der Einwanderung bis zum imperialistischen Weltkriege. Pokrowsk, Moskau, Charkow 1930, 386 S., online unter: https://bibliothek.rusdeutsch.eu/catalog/167
Unsere Studenten am deutschen Sektor der kommunistischen Universität der Westvölker zu Moskau, in: Unsere Wirtschaft (Pokrowsk), 4/1925, Nr. 14, с. 426‒427:
Die Wolgadeutschen im Brasilianischen Staate Parana. Festschrift zum Fünfzig- Jahr-Jubiläum ihrer Einwanderung. Stuttgart 1927, in: Wolgadeutsches Schulblatt (Pokrowsk), 2 (1928), Nr. 1, S. 53‒58 [Eine Schilderung der Auswanderung der Wolgadeutschen nach Südamerika und die Rezension der oben genannten Festschrift]:
Das Grundbesitzrecht in den Wolgakolonien laut Erlass vom 19. März 1764 und seine weitere Entwicklung, in: Wolgadeutsches Schulblatt, 2 (1928), Nr. 7, S. 727‒734; Nr. 8, S. 823‒880:
Das BKDR besitzt ein aufschlussreiches Zeugnis über den ersten
professionellen Historiker aus der Mitte der Wolgadeutschen, David Schmidt
(1897–1938), dem Autor des fundamentalen Werkes „Studien über die Geschichte
der Wolgadeutschen“.
Es handelt sich um Erinnerungen seiner Tochter, Swetlana
Schmidt (1933 – 2019), die sie 2010 niedergeschrieben hat. Zum ersten Mal erfährt
man Näheres über viele Stationen des Bildungs- und Berufslebens des Historikers
und Journalisten, die bislang unbekannt waren. Des Weiteren sind mehrere zuvor unbekannte
Fotos von David Schmidt zu sehen – bisher wusste man nicht einmal, wie er
aussah.
Gleichzeitig liefern die Erinnerungen interessante Einblicke in den Lebensweg seiner Ehefrau Eugenia, geb. Albrandt (1899-1984), einer für die damalige Zeit fortschrittlichen und emanzipierten Frau, die ebenfalls aus dem traditionellen Siedlermilieu stammte, jedoch einen beeindruckenden Bildungsweg vorweist: sie absolvierte 1918 das 5. Saratower Mädchengymnasium und studierte bis 1924 an der Rechtsfakultät der Saratower Universität. Bis zur Deportation 1941 war sie als Juristin tätig.
David Schmidt als Student und als Vize des offiziellen Vertreters der ASSR der Wolgadeutschen bei der Regierung der RSFSR. Hier mit seiner Ehefrau Eugenia. Moskau 1925.
Das Bayerische Kulturzentrum der Deutschen aus Russland bewahrt eine interessante Dokumentensammlung der Familie Lutz-Gerstenberger auf, die uns Arwed Lutz aus der Stadt Almaty in Kasachstan überreicht hat. Neben seltenen zeitgenössischen Fotos und Dokumenten, die demnächst im Dokumentationsarchiv des BKDR erfasst werden, befindet sich in der Sammlung ein Originalschein der Abteilung für Sondersiedlungen des Ministeriums für Innere Angelegenheiten MWD. Zehn Jahre nach dem Krieg lebten die Einwohner der Nachfolgestaaten des besiegten Dritten Reiches, der BRD und der DDR, längst in der bürgerlichen Normalität. Die DDR-Deutschen durften sogar zur Aufnahme eines Studiums und bereits zu Touristenzwecken in die UdSSR reisten. Dagegen befanden sich die unbeteiligten „Sowjetbürger deutscher Nationalität“ noch immer im Ausnahmezustand und standen als Personen minderen Rechts unter Kontrolle der Sonderkommandanturen des Innenministeriums. Ihnen wurde bis 1955 verboten, sich im eigenen Land zu bewegen. Sie waren an Orte der Pflichtansiedlung fest gebunden und durften diese nicht ohne behördliche Genehmigung verlassen (siehe unten die Originalgenehmigung auf Russisch und die deutsche Übersetzung).
(c) BKDR
Übersetzung (gelb markiert sind die handschriftlichen Eintragungen im Vordruck)
Am 26. Dezember 1980 eröffnete in der Stadt Temirtau, Gebiet Karaganda/Kasachstan, das einzige seit 1941 professionelle deutsche Theater in der UdSSR seine erste Spielzeit. Für die nach wie vor unter diversen Diskriminierungen leidende deutsche Bevölkerung, die damals mit zwei Millionen wesentlich mehr Menschen als einige europäische Staaten zählte, war dieses kulturelle Ereignis von größter Relevanz. In den darauffolgenden etwas mehr als zehn Jahren seines Bestehens hat das Nationaltheater mit seinem Schauspielensemble entscheidende Impulse für die politische Mobilisierung der Sowjetdeutschen und für die Wiederbelebung ihrer Sprache und Kultur gesetzt.
(c) BKDR
Dank der großzügigen Schenkung von Rose Steinmark, der einstigen Chefdramaturgin des Deutschen Theaters in Kasachstan, verfügt das Dokumentationsarchiv des BKDR über eine wahre Rarität: Es ist das einzigartige Werbeplakat zu ihrer Abschlussarbeit bzw. ihrem „Diplom-Schauspiel“, das die Studenten des deutschen Studios an der Schtschepkin-Theaterschule vor 40 Jahren, am 1. Juni 1980, auf der Bühne des Staatlichen Akademischen Maly Theater der UdSSR in Moskau vorgestellt hatten.
Bekanntlich leitete das berühmte Manifest der Zarin Katharina II. (Regierungszeit 1762 – 1796) vom 22. Juli 1763 die massenhafte Einwanderung von ausländischen Siedlern ins Russische Reich ein. Es sicherte ausländischen Siedlern zahlreiche Rechte zu und versprach vielerlei Vergünstigungen: Fahrt zum gewählten Wohnort auf Staatskosten, kostenlose Zuteilung von Land, freie Steuerjahre, innere Selbstverwaltung, Befreiung vom Militärdienst, Gottesdienst, Schulunterricht und Amtshandlungen in der Muttersprache und dergleichen. Ein durchschlagender Erfolg zeigte sich vor allem in den deutschen Kleinstaaten und freien Reichsstädten.
Hier die Urfassung dieses Erlasses in deutscher Sprache aus der Sammlung der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek, Göttingen:
Da Katharina II. gebürtige deutsche Prinzessin war, geboren 1729 als Sophie Auguste Friederike von Anhalt-Zerbst in Stettin, und die eingewanderten Kolonisten größtenteils ebenfalls aus deutschen Ländern kamen, machte sich nicht nur in der russisch-chauvinistischen oder landsmannschaftlichen Publikationen der Glaube breit, dass die „deutsche“ Zarin explizit nur ihre Landsleute zur Besiedlung nach Russlands eingeladen hat. Dabei wird oft außer Acht gelassen, dass im Text dieses Rechtsaktes jegliche Präferenz oder auch nur die einfache Erwähnung einer konkreten nationalen Gruppe komplett fehlt. Im Dokument ist die Rede ausschließlich von „Ausländern“. Eine weitere Ursache des Missverständnisses ist wohl dem Umstand geschuldet, dass man kaum zur Kenntnis nahm, dass das Manifest von Anfang an übersetzt in verschiedenen Sprachen publiziert und in ganz Europa und darüber hinaus verbreitet wurde. Auch die Wissenschaft bezieht sich bis heute fast ausschließlich auf die russische Originalfassung oder auf die deutschsprachige Übersetzung. Umso wichtiger ist der Umstand, dass es dem BKDR gelungen ist, eine englischsprachige Fassung des Einladungsmanifestes aus dem Jahr 1763 als hochwertige Kopie aus dem Russländischen Staatsarchiv der Altertümlichen Akten RGADA in Moskau zu bekommen.
Dies ist ein wichtiger Beweis für
die vorherrschende Absicht der damaligen russischen Regierung, zu den Zwecken
der Urbarmachung und Besiedlung der unterentwickelten Territorien nicht nur
deutsche, sondern auch andere, vornehmlich europäische Kolonisten einzuladen.
Hier der Text der abgebildeten Seite des Dokuments:
Das Dokumentationsarchiv des BKDR bewahrt ein unikales Dokument auf. Dabei handelt es sich um handgeschriebene Erinnerungen von Prof. Dr. Nikolai Käfer, auch Kaefer (1864 – 1944), einem führenden sowjetischen Chirurgen im Bereich der Orthopädie der Zwischenkriegszeit. Er wurde in der Kolonie Neu-Monthal, Gouvernement Taurien (Südukraine) geboren, studierte und promovierte an der Universität Dorpat – heute Tartu in Estland – und war längere Zeit Professor am medizinischen Institut in Odessa.
Das Manuskript wurde Mitte der 1920er Jahre niedergeschrieben. Es ermöglicht seltene Einblicke in das Alltagsleben solcher Siedler-Kolonisten im Schwarzmeergebiet des 19. Jahrhunderts, die primär nicht in der Landwirtschaft tätig waren. Des Weiteren beschreibt Käfer persönliche Erfahrungen seines Besuches des russischen Gymnasiums in der Kreisstadt Berdjansk. Besonders wertvoll sind die Ausführungen über geistige und kulturelle Bestrebungen eines Kreises der nach höherer Bildung strebenden „Kolonistensöhne“, die das gleiche Gymnasium besuchten und später an verschiedenen Universitäten im In- und Ausland studierten.
Schließlich folgen seine Eindrücke aus der Studienzeit an der Universität Odessa, wo er zunächst immatrikuliert war, bis er 1885 an die Alma Mater Dorpatensis wechselte. Unseres Wissens nach sind das die ersten aus den Federn eines deutschen bäuerlichen Ansiedlers stammende Beschreibungen des akademischen Alltags. Leider blieben die Erinnerungen aus uns nicht bekannten Gründen unvollendet – sie hören abrupt in der Mitte eines Satzes über seine Dorpater Zeit auf…
Die Erinnerungen, in drei Schülerheften auf
Deutsch in Sütterlinschrift niedergeschrieben, befanden sich zuletzt beim Enkel
Alexander Kaefer, der in der Nähe von München lebte. Der Vater Boris, Sohn des
Professors, siedelte nach Deutschland noch in den 1920ern über.
Dieses unikale Dokument wird z. Zt. im Rahmen des langfristigen Projekts „Bildungstraditionen im bäuerlichen Milieu“, Unterprojekt: „Anfänge der akademischen Bildung unter den Schwarzmeer- und Wolgadeutschen am Beispiel der Universität Dorpat“, mit einem fundierten Vorwort, dem Erinnerungstext in moderner Schreibweise, detaillierten Kommentaren sowie einem illustrativen Teil zum druckfertigen Typoskript vorbereitet. Diese aufschlussreiche Quelle sollte einem möglichst breiten Historiker- und Interessentenkreis zugänglich gemacht werden, denn sie stammt von Nikolai Käfer. Er war einer der ersten Intellektuellen aus dem Siedlermilieu.