„Friesennot“ und „Film der Wahrheit“

Die Bibliothek des Bayerischen Kulturzentrums der Deutschen aus Russland beherbergt einen schmalen Band aus der Inselbücherei mit der Erzählung von Werner Kortwich: Friesennot, 1938,Taschenbuchformat, vergrößerte Schrift, 78 Seiten. Die erste Ausgabe erschien 1933 mit einer Auflage von 10.000 Exemplaren. Es folgten weitere Ausgaben, sodass bis 1938 insgesamt mindestens 75.000 Einzelstücke gedruckt wurden.

Worum geht es in diesem Werk? Es geht um das im Dritten Reich geradezu obsessiv verfolgte Thema des „Auslandsdeutschtums“, genauer gesagt um das Schicksal der Deutschen in der bolschewistischen Sowjetunion. Es wird am Beispiel eines friesisch-mennonitischen Dorfes irgendwo „inmitten der dichtesten Wälder und Sümpfe westlich der Wolga“ (sic!) dargelegt.

Der Inhalt der Erzählung bildet eine krude Mischung aus erfundenen Lebensumständen und propagandistischen Klischees über die Leiden der „Friesen“ unter dem bolschewistischen Regime, die mit einigen überzeichneten, aber im Kern doch realen Gegebenheiten vermengt werden. Einen Eindruck der künstlerischen und historischen Qualität der Erzählung gewinnt man bereits anhand einer Leseprobe:

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Einladung und Programm der ersten Nachkriegskonferenz zu den Deutschen in der UdSSR, Juni 1989

Bis Mitte der 1980er Jahre gab es in der UdSSR kaum Publikationen, die sich mit der Geschichte und Kultur der „sowjetischen Bürger deutscher Nationalität“ befassten. Hierzu gab es weder Forschungsinstitute, Bibliotheken, Archive, Dokumentationsstätten und Museen noch historische Vereine jeglicher Art. Wer auch nur versuchte, auf diesen eklatanten Missstand zu verweisen und eine öffentliche Auseinandersetzung mit der Problematik zu fordern, musste mit harten Konsequenzen bis hin zur strafrechtlichen Verfolgung rechnen. Stellvertretend dafür steht das Schicksal einer Gruppe von deutschen Intellektuellen aus Nowosibirsk, die 1982 in dieser Angelegenheit einen Appell an sowjetische Wissenschaftler richtete. Erst die begonnene Demokratisierung der sowjetischen Gesellschaft im Zuge von Glasnost und Perestroika hat auch in diesem Bereich ein Umdenken ausgelöst. Allerdings dauerte es noch einige Jahre, bis das Thema „Deutsche in Russland bzw. in der UdSSR“ ein gleichberechtigter Teil des öffentlichen Diskurses geworden war.

Beim BKDR werden interessante Zeugnisse zu den Anfängen der gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der nationalen Geschichte aufbewahrt. Es handelt sich um das Programmheft und die Einladung zur ersten offiziell zugelassenen Konferenz zur innerdeutschen Thematik seit 1941. Die Tagung „Die Deutschen in der Bruderfamilie der Sowjetvölker“ fand nach dem beinahe 50-jährigen öffentlichen Schweigen vom 16.-17. Juni 1989 in Alma-Ata, der damaligen Hauptstadt der Republik Kasachstan, statt. Die Einladung sowie das Programm sind in drei Sprachen gedruckt: Kasachisch, Russisch und Deutsch.

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David Schmidt – seine wichtigsten Publikationen

Ein weiteres Anliegen des Kulturzentrums besteht darin, seine zahlreichen, bislang kaum bekannten Schriften, die verstreut in schwer auffindbaren Zeitschriften und Zeitungen der 1920er – Anfang der 1930er Jahre veröffentlicht wurden, einem möglichst breitem Publikum zugänglich zu machen. Nachfolgend eine Liste der bereits digitalisierten Publikationen; weitere Veröffentlichungen werden folgen.

Monographie:

  • Studien über die Geschichte der Wolgadeutschen. Erster Teil. Seit der Einwanderung bis zum imperialistischen Weltkriege. Pokrowsk, Moskau, Charkow 1930, 386 S., online unter:
    https://bibliothek.rusdeutsch.eu/catalog/167

Zeitschriftenbeiträge:

  • Die Wolgadeutschen im Zuge des historischen Fortschrittes, in: Das Neue Russland (Berlin), Nr. 7‒8/1924, с. 13‒14, online unter:
    https://www.arthistoricum.net/werkansicht/dlf/182055/15/0/
  • Unsere Studenten am deutschen Sektor der kommunistischen Universität der Westvölker zu Moskau, in: Unsere Wirtschaft (Pokrowsk), 4/1925, Nr. 14, с. 426‒427:
  • Aus der Geschichte der Wolgadeutschen, in: Das Neue Russland (Berlin), Sonderheft 1-2/1926, S. 3‒4, online unter:
    https://www.arthistoricum.net/werkansicht/dlf/182061/5/0/
  • Das Pressewesen der Wolgadeutschen, in: ebenda, S. 15-18, online unter:
    https://www.arthistoricum.net/werkansicht/dlf/182061/17/0/
  • Die Wolgadeutschen im Brasilianischen Staate Parana. Festschrift zum Fünfzig- Jahr-Jubiläum ihrer Einwanderung. Stuttgart 1927, in: Wolgadeutsches Schulblatt (Pokrowsk), 2 (1928), Nr. 1, S. 53‒58 [Eine Schilderung der Auswanderung der Wolgadeutschen nach Südamerika und die Rezension der oben genannten Festschrift]:
  • Das Grundbesitzrecht in den Wolgakolonien laut Erlass vom 19. März 1764 und seine weitere Entwicklung, in: Wolgadeutsches Schulblatt, 2 (1928), Nr. 7, S. 727‒734; Nr. 8, S. 823‒880:

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Der erste professionelle Historiker unter den Wolgadeutschen

Das BKDR besitzt ein aufschlussreiches Zeugnis über den ersten professionellen Historiker aus der Mitte der Wolgadeutschen, David Schmidt (1897–1938), dem Autor des fundamentalen Werkes „Studien über die Geschichte der Wolgadeutschen“.

Es handelt sich um Erinnerungen seiner Tochter, Swetlana Schmidt (1933 – 2019), die sie 2010 niedergeschrieben hat. Zum ersten Mal erfährt man Näheres über viele Stationen des Bildungs- und Berufslebens des Historikers und Journalisten, die bislang unbekannt waren. Des Weiteren sind mehrere zuvor unbekannte Fotos von David Schmidt zu sehen – bisher wusste man nicht einmal, wie er aussah.

Gleichzeitig liefern die Erinnerungen interessante Einblicke in den Lebensweg seiner Ehefrau Eugenia, geb. Albrandt (1899-1984), einer für die damalige Zeit fortschrittlichen und emanzipierten Frau, die ebenfalls aus dem traditionellen Siedlermilieu stammte, jedoch einen beeindruckenden Bildungsweg vorweist: sie absolvierte 1918 das 5. Saratower Mädchengymnasium und studierte bis 1924 an der Rechtsfakultät der Saratower Universität. Bis zur Deportation 1941 war sie als Juristin tätig.

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Reiseerlaubnis für eine/n Sondersiedler/in

(Dokument des Monats April)

Das Bayerische Kulturzentrum der Deutschen aus Russland bewahrt eine interessante Dokumentensammlung der Familie Lutz-Gerstenberger auf, die uns Arwed Lutz aus der Stadt Almaty in Kasachstan überreicht hat. Neben seltenen zeitgenössischen Fotos und Dokumenten, die demnächst im Dokumentationsarchiv des BKDR erfasst werden, befindet sich in der Sammlung ein Originalschein der Abteilung für Sondersiedlungen des Ministeriums für Innere Angelegenheiten MWD. Zehn Jahre nach dem Krieg lebten die Einwohner der Nachfolgestaaten des besiegten Dritten Reiches, der BRD und der DDR, längst in der bürgerlichen Normalität. Die DDR-Deutschen durften sogar zur Aufnahme eines Studiums und bereits zu Touristenzwecken in die UdSSR reisten. Dagegen befanden sich die unbeteiligten „Sowjetbürger deutscher Nationalität“ noch immer im Ausnahmezustand und standen als Personen minderen Rechts unter Kontrolle der Sonderkommandanturen des Innenministeriums. Ihnen wurde bis 1955 verboten, sich im eigenen Land zu bewegen. Sie waren an Orte der Pflichtansiedlung fest gebunden und durften diese nicht ohne behördliche Genehmigung verlassen (siehe unten die Originalgenehmigung auf Russisch und die deutsche Übersetzung).

(c) BKDR

Übersetzung (gelb markiert sind die handschriftlichen Eintragungen im Vordruck)

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Dokument des Monats März 2020

Am 26. Dezember 1980 eröffnete in der Stadt Temirtau, Gebiet Karaganda/Kasachstan, das einzige seit 1941 professionelle deutsche Theater in der UdSSR seine erste Spielzeit. Für die nach wie vor unter diversen Diskriminierungen leidende deutsche Bevölkerung, die damals mit zwei Millionen wesentlich mehr Menschen als einige europäische Staaten zählte, war dieses kulturelle Ereignis von größter Relevanz. In den darauffolgenden etwas mehr als zehn Jahren seines Bestehens hat das Nationaltheater mit seinem Schauspielensemble entscheidende Impulse für die politische Mobilisierung der Sowjetdeutschen und für die Wiederbelebung ihrer Sprache und Kultur gesetzt.

(c) BKDR

Dank der großzügigen Schenkung von Rose Steinmark, der einstigen Chefdramaturgin des Deutschen Theaters in Kasachstan, verfügt das Dokumentationsarchiv des BKDR über eine wahre Rarität: Es ist das einzigartige Werbeplakat zu ihrer Abschlussarbeit bzw. ihrem „Diplom-Schauspiel“, das die Studenten des deutschen Studios an der Schtschepkin-Theaterschule vor 40 Jahren, am 1. Juni 1980, auf der Bühne des Staatlichen Akademischen Maly Theater der UdSSR in Moskau vorgestellt hatten.

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BKDR beim „Forum Soziale Stadtentwicklung“ und Workshop „Geisteswissenschaft und Archive“

Dr. Viktor Krieger hat im vergangenen Monat in Bamberg am „Forum Soziale Stadtentwicklung“ des Verbandes bayerischer Wohnungsunternehmen e. V. (VdW Bayern) teilgenommen. Dabei hielt er im Rahmen der Veranstaltung einen Vortrag zum Thema: „Vom russischen Kolonisten zum Bundesbürger – Hauptstationen der russlanddeutschen Geschichte und ihre Auswirkungen auf das Selbstverständnis der Siedler und ihrer Nachkommen.“
In dem Vortrag wurde ersichtlich, welche Erfahrungen die deutsche Minderheit im Umgang mit staatlichen Institutionen und gleichzeitig verschieden Völkern seit der Auswanderung in das damalige Russische Reich gemacht hat. Genau diese historischen Erlebnisse und Kenntnisse wurden vor den Spiegel der heutigen Gesellschaft in Deutschland gehalten und es wurde veranschaulicht, inwiefern und auf welche Art und Weise das Leben der Deutschen aus Russland dadurch noch bis heute geprägt wird.

Bamberg. Dr. Krieger beim „Forum Soziale Stadtentwicklung“.
Foto: VdW Bayern / Klaus D. Wolf.

Darüber hinaus nahmen unsere wissenschaftlichen Mitarbeiter, Prof. Dr. Olga Litzenberger und Dr. Viktor Krieger, im Rahmen eines Weiterbildungsprogramms am Workshop „Geisteswissenschaft und Archive“ teil. Der Workshop wurde dabei vom Hessischen Landesarchiv organisiert und in den Räumlichkeiten des Staatsarchivs Darmstadt durchgeführt. An der Tagesordnung standen mehrere Vorträge von Wissenschaftlern, Bibliothekaren und Archivaren, die zum einen interessante Einblicke in die modernen Forschungsmethoden und Quellenarbeit boten und zum anderen die Potentiale von regionalen Archiven und ihren Digitalisierungsstrategien darlegten.

Treffen im BKDR mit Prof. Dr. Julia Obertreis aus Erlangen

V. l. n. r.: Julia Obertreis, Viktor Krieger und Olga Litzenberger.

Erst kürzlich fand in den Räumlichkeiten des Bayerischen Kulturzentrums der Deutschen aus Russland ein Treffen mit Frau Prof. Dr. Julia Obertreis statt, die den Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte mit dem Schwerpunkt der Geschichte Osteuropas an der Universität Erlangen-Nürnberg leitet. Am Gespräch nahmen Dr. Viktor Krieger und Prof. Dr. Olga Litzenberger, beide wissenschaftliche Mitarbeiter des Kulturzentrums, teil.

Im Laufe des zweistündigen Gedankenaustausches wurde ein grundsätzliches Interesse an der Zusammenarbeit beider Institutionen wie etwa bei studentischen Praktika oder an studiengangsunabhängigen Lehrveranstaltungen bekundet. Gleichzeitig kam die Idee eines gemeinsamen Zeitzeugenprojekts auf, das vom Alltagsleben der Deutschen in Zentralasien handelt.

„Motorrad mit kaputtem Auspuff“

Am 15. Februar 2020 waren der russlanddeutsche Komödiant Vladimir Andrienko und die Tanzgruppe „Surprise“ von der Tanzschule Franz Hof zu Gast beim BKDR in der Sandstraße 20A in Nürnberg.

Vladimir Andrienko, im Alter von 27 Jahren nach Deutschland gekommen und studierter Sozialarbeiter aus Düsseldorf, reiste mit seinem Programm „Motorrad mit kaputtem Auspuff“ zum Bayerischen Kulturzentrum der Deutschen aus Russland nach Nürnberg.
Der in Kasachstan geborene Komödiant brachte die Zuschauer gekonnt zum Lachen. Zurückgreifen konnte er dabei auf seine jahrelange Erfahrung aus der Zeit an der Universität Astana im berühmten studentischen KWN-Club (Klub der Lustigen und Schlagfertigen). Doch nicht nur das. Er regte die Leute mit den teils gesellschaftskritischen Witzen mitten aus dem Leben eines Deutschen aus Russland zum Nachdenken an. Er nahm Bezug zu denjenigen Leuten, auf die man im Laufe seines Lebens immer wieder aufs Neue trifft und einem vermitteln möchten, dass man „nicht das Richtige tue“ und „mit dieser Sache doch sowieso nichts erreichen werde.“ – alles auf lustige Art und Weise mit russlanddeutschen Bezügen verpackt.
Die Quintessenz bestand darin, dass man zu jedem Zeitpunkt genau das tun soll, was einem Spaß macht. Man darf sich nicht von seinem Weg abbringen lassen und dürfe nie den Glauben an sich selbst verlieren, denn mit „harter Arbeit und einem klaren Fokus sei viel möglich.“, so Andrienko.
Sowohl vor dem Auftritt als auch kurz nach der Zwischenpause heizte die Tanzgruppe „Surprise“ mit russlanddeutschen Tänzen in ansehnlichen Outfits ordentlich ein rundete einen gelungenen Abend vollends ab.

In unserer Galerie finden Sie einige Eindrücke der Veranstaltung.

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Die Zarin Katharina die Große und das Einladungsmanifest vom 22. Juli 1763 in englischer Sprache

Bekanntlich leitete das berühmte Manifest der Zarin Katharina II. (Regierungszeit 1762 – 1796) vom 22. Juli 1763 die massenhafte Einwanderung von ausländischen Siedlern ins Russische Reich ein. Es sicherte ausländischen Siedlern zahlreiche Rechte zu und versprach vielerlei Vergünstigungen: Fahrt zum gewählten Wohnort auf Staatskosten, kostenlose Zuteilung von Land, freie Steuerjahre, innere Selbstverwaltung, Befreiung vom Militärdienst, Gottesdienst, Schulunterricht und Amtshandlungen in der Muttersprache und dergleichen. Ein durchschlagender Erfolg zeigte sich vor allem in den deutschen Kleinstaaten und freien Reichsstädten.

Hier die Urfassung dieses Erlasses in deutscher Sprache aus der Sammlung der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek, Göttingen:

https://gdz.sub.uni-goettingen.de/id/PPN619069759

Da Katharina II. gebürtige deutsche Prinzessin war, geboren 1729 als Sophie Auguste Friederike von Anhalt-Zerbst in Stettin, und die eingewanderten Kolonisten größtenteils ebenfalls aus deutschen Ländern kamen, machte sich nicht nur in der russisch-chauvinistischen oder landsmannschaftlichen Publikationen der Glaube breit, dass die „deutsche“ Zarin explizit nur ihre Landsleute zur Besiedlung nach Russlands eingeladen hat. Dabei wird oft außer Acht gelassen, dass im Text dieses Rechtsaktes jegliche Präferenz oder auch nur die einfache Erwähnung einer konkreten nationalen Gruppe komplett fehlt. Im Dokument ist die Rede ausschließlich von „Ausländern“. Eine weitere Ursache des Missverständnisses ist wohl dem Umstand geschuldet, dass man kaum zur Kenntnis nahm, dass das Manifest von Anfang an übersetzt in verschiedenen Sprachen publiziert und in ganz Europa und darüber hinaus verbreitet wurde. Auch die Wissenschaft bezieht sich bis heute fast ausschließlich auf die russische Originalfassung oder auf die deutschsprachige Übersetzung. Umso wichtiger ist der Umstand, dass es dem BKDR gelungen ist, eine englischsprachige Fassung des Einladungsmanifestes aus dem Jahr 1763 als hochwertige Kopie aus dem Russländischen Staatsarchiv der Altertümlichen Akten RGADA in Moskau zu bekommen.

Dies ist ein wichtiger Beweis für die vorherrschende Absicht der damaligen russischen Regierung, zu den Zwecken der Urbarmachung und Besiedlung der unterentwickelten Territorien nicht nur deutsche, sondern auch andere, vornehmlich europäische Kolonisten einzuladen.

Hier der Text der abgebildeten Seite des Dokuments:

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Wertvolles Manuskript: Handgeschriebene Erinnerungen von Prof. Dr. Nikolai Käfer

Das Dokumentationsarchiv des BKDR bewahrt ein unikales Dokument auf. Dabei handelt es sich um handgeschriebene Erinnerungen von Prof. Dr. Nikolai Käfer, auch Kaefer (1864 – 1944), einem führenden sowjetischen Chirurgen im Bereich der Orthopädie der Zwischenkriegszeit. Er wurde in der Kolonie Neu-Monthal, Gouvernement Taurien (Südukraine) geboren, studierte und promovierte an der Universität Dorpat – heute Tartu in Estland – und war längere Zeit Professor am medizinischen Institut in Odessa.  

Das Manuskript wurde Mitte der 1920er Jahre niedergeschrieben. Es ermöglicht seltene Einblicke in das Alltagsleben solcher Siedler-Kolonisten im Schwarzmeergebiet des 19. Jahrhunderts, die primär nicht in der Landwirtschaft tätig waren. Des Weiteren beschreibt Käfer persönliche Erfahrungen seines Besuches des russischen Gymnasiums in der Kreisstadt Berdjansk. Besonders wertvoll sind die Ausführungen über geistige und kulturelle Bestrebungen eines Kreises der nach höherer Bildung strebenden „Kolonistensöhne“, die das gleiche Gymnasium besuchten und später an verschiedenen Universitäten im In- und Ausland studierten.

Schließlich folgen seine Eindrücke aus der Studienzeit an der Universität Odessa, wo er zunächst immatrikuliert war, bis er 1885 an die Alma Mater Dorpatensis wechselte. Unseres Wissens nach sind das die ersten aus den Federn eines deutschen bäuerlichen Ansiedlers stammende Beschreibungen des akademischen Alltags. Leider blieben die Erinnerungen aus uns nicht bekannten Gründen unvollendet – sie hören abrupt in der Mitte eines Satzes über seine Dorpater Zeit auf…

Die Erinnerungen, in drei Schülerheften auf Deutsch in Sütterlinschrift niedergeschrieben, befanden sich zuletzt beim Enkel Alexander Kaefer, der in der Nähe von München lebte. Der Vater Boris, Sohn des Professors, siedelte nach Deutschland noch in den 1920ern über. 

Dieses unikale Dokument wird z. Zt. im Rahmen des langfristigen Projekts „Bildungstraditionen im bäuerlichen Milieu“, Unterprojekt: „Anfänge der akademischen Bildung unter den Schwarzmeer- und Wolgadeutschen am Beispiel der Universität Dorpat“, mit einem fundierten Vorwort, dem Erinnerungstext in moderner Schreibweise, detaillierten Kommentaren sowie einem illustrativen Teil zum druckfertigen Typoskript vorbereitet. Diese aufschlussreiche Quelle sollte einem möglichst breiten Historiker- und Interessentenkreis zugänglich gemacht werden, denn sie stammt von Nikolai Käfer. Er war einer der ersten Intellektuellen aus dem Siedlermilieu.

Zeitzeugenprojekt

In den Räumlichkeiten des Kulturzentrums fand eine Begegnung mit dem Zeitzeugen Johannes Kowis anlässlich seines 90. Geburtstages statt. Begleitet wurde er von seiner Ehegattin Pauline sowie dem Landsmann Georg Reis. Dr. Viktor Krieger und Franz Hof empfingen die Gäste im Namen des BKDR.

V. l. n. r.: Viktor Krieger, Johannes Kowis, Pauline Kowis und Georg Reis.

Zur Person: Herr Kowis kam 1929 in der Siedlung München im damaligen Gebiet Odessa in der Ukraine zur Welt. Mit 15 Jahren musste er mit seinen Eltern und insgesamt neun Geschwistern sein Heimatdorf verlassen, um über Rumänien und Bulgarien zuerst nach Polen und dann nach Deutschland zu fliehen. Im September 1945 erfolgte die sog. Repatriierung in der Sowjetunion, die nach vier Monaten am 11. Januar 1946 im Ural in der Stadt Asbest fortgesetzt wurde. Im Jahre 1961 ging für Johannes Kowis die Reise nach Lettland weiter, wo er mit seiner Frau und seinen Kindern eine neue Existenz aufbaute. Im Jahre 1975 durfte die Familie Kowis in die Bundesrepublik einreisen und zog nach Nürnberg. Hier begann für ihn mit 47 Jahren ein neuer Lebensabschnitt in der uralten Heimat.

Infolgedessen entwickelte sich ein lebhaftes Gespräch darüber, was ein Russlanddeutscher in der damaligen Zeit durchmachen musste: Verfolgungen der Familienmitglieder zur Stalinzeit, Besatzung und Flucht in den Westen, Repatriierung in den Ural, schwere Lebenszeiten, Wanderungen und Umzüge nach der Aufhebung der Sonderkommandantur 1955, Kampf um die Ausreise nach Deutschland.

Anschließend wurde dem Jubilar ein Ehrenbrief überreicht.

„Der Mensch und das System – Das „sowjetische Gepäck“ der Russlanddeutschen zwischen Erfahrung und Erinnerung“

Am 5. und 6. Dezember 2019 fand im Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold die Konferenz „Der Mensch und das System – Das „sowjetische Gepäck“ der Russlanddeutschen zwischen Erfahrung und Erinnerung“ statt.
Unser Mitarbeiter Dr. Viktor Krieger nahm an der Tagung teil und referierte zum Thema: „Bildungsstand als Indikator der (gesellschafts-) politischen Lage der Deutschen in der UdSSR und in der Russländischen Föderation.“

V. l. n. r.: Jannis Panagiotidis, Viktor Krieger, Dmytro Myeshkov und Victor Dönninghaus.

Im Vortrag wurde u.a. ein Vergleich des Bildungsstandes der ausgewählten sowjetischen/russländischen Völker mit dem der deutschen Minderheit zu verschiedenen zeithistorischen Perioden untersucht. Der Grad der Partizipation an Bildungsangeboten ist eines der wichtigsten Erkennungszeichen der gesellschaftlichen und politischen Stellung einer regionalen, sozialen, religiösen oder nationalen Gruppe. Als empirische Grundlage dienen dabei hauptsächlich die Ergebnisse der Volkszählungen von 1926 und 1939 in der Zwischen- und 1989 und 2010 für die Nachkriegszeit.

Diese Untersuchung erfolgt im Rahmen des langfristigen wissenschaftlichen Vorhabens des BKDR über „Bildungstraditionen im bäuerlichen Milieu“ am Beispiel der deutschen Siedler-Kolonisten und ihren Nachkommen im Russischen Reich, in der UdSSR, in den heutigen GUS-Staaten und schließlich auch in Deutschland.

Dokument des Monats Dezember

Zu einem der exponiertesten Originalobjekte des Bayerischen Kulturzentrums der Deutschen aus Russland gehört die Radierung „Ulmer Schachtel. Feier auf einem Boot“ des bekannten deutschen Malers und Grafikers Hans Barthelmess. Die Zeichnung bildet ein Boot vor dem Hintergrund des Ulmer Doms ab.

Auswanderungswillige aus süddeutschen Ländern, die im 18. und 19. Jahrhundert nach Südosteuropa und ins Russische Reich zogen, benutzten als Transportmittel häufig ein Einweg-Boot ohne Kiel – die sogenannte „Ulmer Schachtel“ – um auf der Donau flussabwärts zum Ziel ihrer Reise zu gelangen. Diejenigen, die nach Russland zogen, wurden mit diesen Booten zur Festung Ismail am Unterlauf der Donau befördert. Von dort aus ging es auf dem Landweg bis nach Odessa, dem vorläufigen Endpunkt ihrer beschwerlichen Reise.

Somit ist die „Ulmer Schachtel“ ein konstitutiver Bestandteil der historischen Überlieferungen und der Erinnerungskultur der Russlanddeutschen.

Hans Barthelmess (1887 – 1916). „Ulmer Schachtel. Feier auf einem Boot.“

Radierung, signiert, Maße 14 x 24 cm., ca. 1910.

„Ein Stückchen Heimat“

Margarita Afanasjew mit dem Zeitzeugen Johannes Ebel während der Veranstaltung.

Am 23. November 2019 nahm unser wissenschaftlicher Mitarbeiter des BKDR, Dr. Viktor Krieger, am Event „Ein Stückchen Heimat“ in Schweinfurt teil.

Bei der Veranstaltung handelte es sich um ein Zeitzeugenprojekt der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland (Ortsgruppe Schweinfurt, Verantwortliche: Margarita Afanasjew), das vom Kulturzentrum unterstützt wurde. Als Gastredner erklärte Krieger u.a. die Ziele des Kulturzentrums und rief die Anwesenden zur Mitarbeit beim Sammeln und Aufbewahren von historisch und kulturell relevanten Objekten geistiger und materieller Kultur auf.

Die anwesende Stadträtin Ljubow Hurlebaus sowie die wissenschaftliche Mitarbeiterin des Kulturforums der Stadt, Andrea Mayer, zeigten großes Interesse an der Zusammenarbeit mit dem BKDR, insbesondere betreffend der inhaltlichen Gestaltung der geplanten Ausstellung über verschiedene Zuwanderungsgruppen im Stadtmuseum Schweinfurt, darunter auch die der Russlanddeutschen.

Dokument des Monats November

Auf dem nachstehenden Gruppenfoto sind Teilnehmer der ersten Nachkriegsdelegation der deutschen Bevölkerung in der UdSSR zu sehen, die in Moskau im Januar 1965 die vollständige Rehabilitierung der Minderheit und die Wiederherstellung der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen (ASSRdWD) forderten. Vier weitere Delegierte, die zu diesem Zeitpunkt bereits abgereist waren, fehlen auf dem Bild.

V. l. n. r.: Heinrich Kaiser (1900 – 1967), Aktivist der Autonomiebewegung aus der Region Krasnojarsk; Dominik Hollmann (1899 – 1990), bekannter wolgadeutscher Hochschullehrer, Schriftsteller und Publizist; Maria Vogel (1910 – 1972), Journalistin, Mitarbeiterin der Zentralzeitung „Neues Leben“ in Moskau. Mutter des weltberühmten Musikers Alfred Schnittke; Iwan (Johann) Brug (1899 – 1978), Jurist aus Kirgisien; Reinhard Köln (1900 – 1988), wolgadeutscher Literat, verbrachte 20 Jahre im Straflager des GULAG; Georg Michel (1934), Ingenieur aus Kirgisien, seit 1972 in Deutschland; Konstantin Bornemann (1896 – 1969), in der Zwischenkriegszeit ein wolgadeutscher Funktionär mittleren Rangs, Parteimitglied seit 1918; Woldemar Schneider (? – ?), Ingenieur aus der Region Krasnojarsk; Nikolaj (Nikolaus) Delwa (? – nach 1980), Arbeiter aus der Stadt Kranoturjinsk, Gebiet Swerdlowsk.

Das Foto ist in der Redaktion der Zeitung „Neues Leben“ gemacht worden, die seit 1957 für die „sowjetdeutsche Bevölkerung“ herausgegeben wurde. Die abgebildeten Personen nahmen am 12. Januar 1965 am Treffen mit dem damaligen Staatsoberhaupt der UdSSR, dem Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR, Anastas Mikojan, teil.  Den Inhalt des für die Deutschen weitestgehend enttäuschenden Empfangs findet man in der Dokumentation „Russlanddeutscher Samisdat“ unter dem nachfolgenden Link: 
https://www.bpb.de/gesellschaft/migration/russlanddeutsche/283401/dokument-1-6-erste-delegation-der-deutschen-in-moskau-in-fragen-der-wiederherstellung-der-autonomie-empfang-der-teilnehmer-durch-den-staatspraesidenten-anastas-mikojan-12-januar-1965

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20-jähriges Jubiläum des Historischen Forschungsvereins der Deutschen aus Russland e.V. (HFDR)

Am 16. November haben unsere Vorstandsmitglieder Rudi Walter, Georg Reis sowie unsere wissenschaftliche Mitarbeiterin Dr. Litzenberger am 20-jährigen Jubiläum des Historischen Forschungsvereins der Deutschen aus Russland e.V. (HFDR) teilgenommen.

Der HFDR wird seit 1999 als gemeinnütziger, eingetragener Verein geführt, der auf dem Gebiet der Erforschung der Geschichte der Russlanddeutschen tätig ist. Der Forschungsverein gilt ebenfalls als eine Anlaufstelle nicht nur für anerkannte Historiker, sondern ebenfalls für freiwillige bzw. unerfahrene Forscher aus dem In- und Ausland, welche zusätzlich in der Familienforschung unterstützt werden.

Der HFDR wurde mit dem Ziel gegründet, an der Gemeinschaftsforschung teilnehmen zu können. Der Verein unterstützt seine Mitglieder bei der Beantragung von Fördermitteln für Forschungsprojekte zur Geschichte der Russlanddeutschen von spezifischem, aber nichtsdestotrotz themenübergreifendem Interesse, das sich mit allen früheren Wohngebieten in Russland, in der UdSSR und in den GUS-Staaten befasst.

Zurzeit engagieren sich insgesamt mehr als 20 Forscherinnen und Forscher sowie geschichtsinteressierte Landsleute im Verein und veröffentlichen regelmäßig ihre Forschungsergebnisse.

Tag der offenen Tür beim BKDR

Denn nur wer unsere Geschichte kennt, kann uns verstehen und mit uns einen ernsthaften Dialog jenseits der etablierten Klischees führen.“

Dichter Andrang herrschte während des Tages der offenen Tür am 5. November im Bayerischen Kulturzentrum der Deutschen aus Russland in der Sandstraße 20A in Nürnberg.

Waldemar Eisenbraun (BKDR-Leiter) begrüßte die geladenen Ehrengäste zum ersten Festakt und gab eine ausführliche Führung durch das Kulturzentrum. Die Hauptrede hielt Carolina Trautner, Staatssekretärin im Bayerischen Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales. Als Ehrengäste und weitere Vertreter aus der Politik nahmen die Nürnberger Oberbürgermeister-Kandidaten Marcus König (CSU) und Verena Osgyan (Grüne), Claudia Arabackyj (stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende im Nürnberger Stadtrat) sowie Regina Enz (Landratskandidatin der Freien Wähler für Erlangen-Höchstadt) an der Veranstaltung teil. Die Diplom-Wirtschaftsingenieurin Regina Enz ist eine Russlanddeutsche und seit vielen Jahren gesellschaftlich-politisch aktiv.

Ewald Oster (Vorstandsvorsitzender des BKDR) betonte in seinem Grußwort, wie dankbar er dem Bayerischen Ministerpräsidenten ist: „Die Gründung des Bayerischen Kulturzentrums der Deutschen aus Russland hatte der Bayerische Ministerpräsident Dr. Markus Söder bereits in seiner ersten Regierungserklärung im April 2018 versprochen und dies auch zügig umgesetzt. Schon am 18. Januar 2019 hatte im Beisein des Ministerpräsidenten und Kerstin Schreyer, der Bayerischen Staatsministerin für Arbeit, Familie und Soziales, eine feierliche Schlüsselübergabe und offizielle Eröffnung stattgefunden.

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Workshop von BAMF/Syspons beim BKDR

Am 29.10.2019 war das BAMF gemeinsam mit Vertretern der Firma Syspons GmbH zu Gast beim Bayerischen Kulturzentrum der Deutschen aus Russland zur Ausrichtung eines Workshops mit Trägern und Vertretern der Zielgruppe der Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler.
Der Workshop fand im Zuge des Projektes „Bedarfserhebung und Neuausrichtung der §9 Abs. 4 Maßnahmen für Spätaussiedler“ statt.
Im Rahmen dieses Projektes, das die Firma Syspons GmbH im Auftrag des BAMF durchführt, wird das bestehende Konzept zur Umsetzung der Maßnahme nach §9 Abs. 4 BVFG angepasst und neu ausgerichtet. Die auf Basis einer durchgeführten Bedarfsanalyse erarbeiteten Änderungsvorschläge werden in vier Workshops mit Trägern und Vertretern der Zielgruppe diskutiert. Ende des Jahres wird das neue Konzept vorliegen.

Dokument des Monats Oktober 2019

Beim vorliegenden Dokument handelt es sich um ein Gedicht, bestehend aus 50 Sechszeilern, das in schlichter Form das bewegende Leben eines schwäbischen Auswanderers im Kaukasus des 19. Jahrhunderts schildert: „Eine kurze Biographie des Johannes Mayer der 2-te und seiner Ehefrau Barbara Mayer, geb. Manz, zum Andenken auf den goldenen Hochzeitstag, den 24.11.1875“.

Biografie-Johann-Mayer (c) BKDR
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