Das Krim-Taurien-Projekt aus dem Jahr 1918 und Pastor Immanuel Winkler

Anknüpfend an unseren letzten Beitrag unter dem Titel „Wie und wann entstand der Begriff „Schwarzmeerdeutsche“? im Rahmen der Reihe Dokument des Monats, möchten wir ein weiteres interessantes Dokument aus dieser Zeit vorstellen.

Es handelt sich dabei um ein Projekt aus dem Jahr 1918, das sich mit der Schaffung einer deutschen Kronkolonie unter dem Namen „Krim-Taurien“ befasst und auf Pastor Immanuel Winkler (1886–1932) als Initiator zurückgeht.

Immanuel Winkler als Theologiestudent an der Universität Dorpat, 1904.

Angetrieben von den bitteren Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, in dem die Zarenregierung ihre eigenen Staatsbürger deutscher Nationalität quasi wie feindliche Ausländer behandelte, sahen sich diese nach der bürgerlichen Februarrevolution 1917 gezwungen, sich selbst zu organisieren und politisch neu zu orientieren. Die Machtergreifung durch die Bolschewiki und deren Bereitschaft, die utopische Gesellschaftsordnung mit Gewalt durchzusetzen, schreckte viele auf und begünstigte solch einen Gesinnungswandel. Nicht zuletzt wurden die deutschen Siedler durch nationale Bewegungen zahlreicher Völker Russlands inspiriert: Finnen, Polen, baltische und kaukasische Völker sagten sich von Russland ab und gründeten unabhängige Staaten, die sich zunächst vor allem vom Deutschen Reich politischen bzw. militärischen Schutz und Unterstützung erhofften. Am 25. Januar 1918 wurde die vollständige Unabhängigkeit der Ukrainischen Volksrepublik proklamiert. Angesichts der akuten Bedrohung durch das bolschewistische Russland (im Dezember 1917 wurde u. a. die Stadt Charkow von russischen Rotgardisten eingenommen, woraufhin dort die „Ukrainische Sowjetische Volksrepublik“ ausgerufen wurde), bat die ukrainische Staatsführung die Mittelmächte offiziell um einen militärischen Beistand. Deutsche sowie österreich-ungarische Truppen rückten in das Land ein und verblieben dort bis Ende 1918.

Angesichts dieser politisch-gesellschaftlichen Umbrüche reifte bei vielen Schwarzmeerdeutschen der Gedanke, ebenfalls auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechtes ein nationales staatliches Gebiet zu gründen. Als „charismatische Führungspersönlichkeit“ (so ein Zeitgenosse) nahm Pastor Immanuel Winkler an der nationalen Bewegung der deutschen Siedler ab März 1917 aktiv teil, u. a. als Delegierter bei der Gründungskonferenz des Allrussländischen Verbandes der russischen Deutschen. Winkler wurde in der bessarabischen Siedlung Sarata geboren, studierte Theologie in Dorpat und amtierte ab 1911 als Pfarrer in Hoffnungstal, Kreis Tiraspol.

Als Vertreter des schwarzmeerdeutschen Bezirkskomitees des Allrussländischen Verbandes nahm er von 1917 bis 1918 an den Konferenzen des Verbandes in Moskau teil, kandidierte als Erstplatzierter bei den Wahlen in die konstituierende Versammlung auf der sogenannten deutschen Liste für Bessarabien. Gleichzeitig stand Winkler dem in Berlin residierenden „Vertrauensrat der deutschen Kolonisten im Schwarzmeergebiet“ vor.

Nachstehend die Eingabe von Pastor Winkler an Kaiser Wilhelm II. betr. der Kronkolonie „Krim-Taurien“, 17. Juni 1918. © Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (PA AA), Berlin.

Während der deutschen Militärpräsenz entwickelte Immanuel Winkler zusammen mit seinen Anhängern die Idee einer Kronkolonie „Krim-Taurien“, in der die Deutschen aus dem Schwarzmeerraum, aus der Wolga- und anderen Regionen unter dem Schutz des Deutschen Reiches angesiedelt werden sollten. Auf mehreren Kongressen und Konferenzen der Siedler-Kolonisten in den Gouvernements Taurien, Bessarabien, Jekaterinoslaw und Cherson stimmte der Großteil der Delegierten diesem Plan zu. Das künftige Gebiet sollte vor allem aus der Halbinsel Krim „mit ihrem stark von Deutschen besiedelten Hinterland Taurien bis etwa zum Dnjeprknie bei Alexandrowsk [1921 umbenannt in Saroporoschje] im Norden und Mariupol im Asowschen Meere“ (siehe Eingabe) gebildet werden und etwa 80.000 km² umfassen. Pastor Winkler verfasste diesbezüglich mehrere Denkschriften und reichte sie beim Auswärtigen Amt ein, adressiert an die Heeresleitung und gar an Kaiser Wilhelm II. Wir veröffentlichen nun an dieser Stelle zum ersten Mal seine Eingabe vom 17. Juni 1918 an den deutschen Kaiser.

In der Geschichtsschreibung wird dieses Projekt nicht selten als Loyalitätsbruch gegenüber dem Gastland Russland, als Ausdruck der pangermanischen bzw. alldeutschen Gesinnung gedeutet. Manche sehen das Krim-Taurien-Projekt sogar in der Kontinuität zur Siedlungs- und Kolonisierungspolitik des Dritten Reiches stehen.

Eine intensivere Auseinandersetzung mit diesem Dokument zeigt allerdings deutlich genug die Voreingenommenheit solcher Ansichten. Zum einen handelt es sich beim Winkler-Plan nicht um einen homogenen „deutschen Kolonistenstaat“, sondern um ein „autonomes deutsch-tatarisches Staatswesen“ (siehe das Dokument), das „zu ihr [der Ukraine] im Bundesverhältnis steht“ und einen föderativen Teil der eigenständigen Ukrainischen Volksrepublik bilden sollte. Zum anderen sollte das Krim-Taurien-Gebiet mit breiten Autonomierechten ausgestattet und eine „eigene Verwaltung mit der deutschen und tatarischen Verwaltungssprache“ aufgebaut werden. Nicht zuletzt sah dieser Plan vor, bei der Bevölkerungsumsiedlung die Ländereien der lokalen russischen sowie ukrainischen Bauern gegen das Land der deutschen Siedler außerhalb dieses Gebiets zu „verrechnen“, die Großgrundbesitzer sollten für ihr Land entsprechende Entschädigungen bekommen.

Die Niederlage im Ersten Weltkrieg machte den Plan eines deutsch-tatarischen Schutzgebiets in der Ukraine vollkommen obsolet. Immanuel Winkler blieb in Deutschland und fungierte 1921–24 als Generaldirektor der Siedlungsgesellschaft Eigenheim in Frankfurt/Oder. In dieser Zeit gründete er die ländliche Siedlung Tirpitz östlich der Stadt, in der sich ca. 30 Familien der Schwarzmeerdeutschen niederließen. 1926 emigrierte Winkler mit seiner Familie nach Kanada. In der Hoffnung auf hohe Getreidepreise und gute Ernten erwarb er dort einen größeren Landbesitz und wurde Farmer. Die im Spätherbst 1929 ausgebrochene Weltwirtschaftskrise zerschlug jedoch weitgehend seine Pläne. In Winnipeg setzte er folglich 1932 seinem Leben durch Selbstmord ein Ende.