„Davon war praktisch jede Familie betroffen“
Dr. Viktor Krieger ist seit mehr als einem Jahr beim BKDR. Grund genug, einen unserer wissenschaftlichen Mitarbeiter genauer vorzustellen: „Vorab eine kurze Erklärung: Ich persönlich bin dem Genossen Stalin irgendwie dankbar. Ohne seine Entscheidungen gäbe es mich bestimmt nicht! Unter „normalen Umständen“ hätte sich mein Vater – ein Wolgadeutscher – mit meiner Mutter aus dem Transkaukasus niemals getroffen! Dank „weiser“ Handlungen des Diktators kamen sie in der Verbannung, in der Siedlung Nowotroizkoje (Gebiet Dschambul/Südkasachstan), zusammen. Dort bin ich 1959 geboren.“, so Krieger mit reichlich Galgenhumor. Nach dem Wirtschaftsstudium in Nowosibirsk ging er einer Anstellung an der technischen Hochschule im heimischen Dschambul nach. Mit der Problematik der russland- bzw. sowjetdeutschen Geschichte begann er sich erst zu Beginn der 1980er intensiv zu beschäftigen.
Insbesondere sein Vater hinterließ einen prägenden Einfluss: „Er war mit dem Erreichten nie zufrieden.“, spricht er über seinen Vater, der zunächst Schullehrer und ab 1964 Hochschullehrer im Gebietszentrum Dschambul war. „Erst im Alter von 44 Jahren promovierte er 1974 zum Dr. rer. nat. und es war beileibe nicht einfach gewesen, sich aus einem bildungsfernen Umfeld als deportierter Deutscher in einer Nationalrepublik durchzusetzen.“, blickt er mit Stolz zurück und schätzt sich glücklich darüber, im Gegensatz zu der Großeltern- bzw. Elterngeneration, in „milderen Zeiten geboren und aufgewachsen“ zu sein.
Während der Perestroika-Zeit wurden zahlreiche Beiträge von Viktor Krieger zu historischen und politischen Themen in den Zeitungen Neues Leben, Freundschaft und Rote Fahne veröffentlicht. Gleichzeitig bereitete er eine Dissertation über Siedlungsgeographie und wirtschaftliche Entwicklung der deutschen Bauern auf dem Territorium Kasachstans im Zarenreich vor. Doch es lief nicht alles nach Plan: „Angesichts der verweigerten Wiedergutmachung und der kaum erfüllbaren Hoffnungen auf die Wiederherstellung der Wolgadeutschen Republik, entschloss sich unser Familienverband, d.h. Eltern, meine Schwester mit ihrem Mann und ich, zusammen mit der Ehefrau und zwei Kindern, 1991 nach Deutschland überzusiedeln.“
Alles begann mit Sprachkursen in Stuttgart und Mannheim. Währenddessen ergab sich die Möglichkeit, sich im Badischen Landesarchiv in Karlsruhe mit dem deutschen Archivwesen vertraut zu machen. Ein zweijähriges Stipendium am Institut für Auslandsbeziehungen in Stuttgart bot eine gute Gelegenheit, bislang kaum bekannte wissenschaftliche und publizistische Werke der in- und ausländischen Autoren über die deutsche Minderheit in Russland bzw. in der UdSSR kennenzulernen. Mitunter darauf basiert seine spätere Arbeitstätigkeit: „Moderne Forschungs- und Lehrmethoden habe ich mir hauptsächlich an der Universität Heidelberg angeeignet. Dort nahm ich im Rahmen des Seminars bzw. der Professur für Osteuropäische Geschichte von 1999 bis zum Wechsel zum BKDR an mehreren Projekten teil und bot den Studierenden eine Reihe von Lehrveranstaltungen an. Zuletzt sind ein Buch zum 100-jährigen Jubiläum der Wolgadeutschen Republik (2018) und eine Online-Dokumentation über den russlanddeutschen Samisdat (2019) erschienen.“
Schwerpunkte seiner Tätigkeit bilden bspw. wissenschaftliche Themen wie etwa „Bildungstraditionen im bäuerlichen Milieu“ oder „Lebenserfahrungen der Deutschen in Zentralasien“. Zudem nimmt die Frage der Vermittlung historischer Erlebnisse einen übergeordneten Platz ein. Es handelt sich um Ausstellungen zu verschiedenen Themenbereichen und populär-wissenschaftlichen Darstellungen wie etwa die Erstellung eines Dokumentations- und Bildarchivs, Vortragsreihen und universitäre Lehrveranstaltungen.
Zurzeit wird der Aufbau einer Online-Gedenkstätte vorangetrieben, die den tragischsten Jahren der Geschichte der Deutschen aus Russland gewidmet ist: „Es geht um Deportation, Zwangsarbeit und Sondersiedlung in den Jahren 1941 bis 1955. Davon war praktisch jede Familie betroffen. Dieses Kapitel nationaler Geschichte hat einen besonderen Stellenwert im kollektiven Gedächtnis und in der Erinnerungskultur der Russlanddeutschen.“, so Dr. Krieger. Für die Nachkommen der Betroffenen sowie den breiten Interessentenkreis sollen zusätzlich die grundlegenden wissenschaftlichen Publikationen und Archivdokumente zugänglich gemacht werden. Zeitzeugeninterviews, Schilderungen politischer Strafprozesse und Dokumente zum Protest und Widerstand im Lager werden ebenfalls thematisiert. Ferner ist es vorgesehen, ein Verzeichnis der Zwangsarbeiter mit den wichtigsten Lebensdaten zu veröffentlichen. Doch was wünscht sich Krieger in Bezug zur russlanddeutschen Thematik eigentlich? „Ein Historiker muss immer mit den Fragen rechnen: „Wozu die Geschichte?“ und „Welche Bedeutung hat sie für den Einzelnen, für eine Gruppe oder für die ganze Nation?“ Fest steht, dass die geschichtlichen Erfahrungen der Russlanddeutschen Zuversicht und Selbstvertrauen vermitteln, denn: obwohl die Vorfahren oft gravierende Entbehrungen und Verfolgungen erlitten, ließen sie sich nicht entmutigen und bissen sich am Ende durch. Für die heutige und für künftige Generationen eine wichtige Botschaft, dass auch sie – diesmal unter wesentlich besseren politisch-gesellschaftlichen Umständen – imstande sind, die aktuellen und kommenden Herausforderungen zu meistern. Ich wünsche mir, dass die Bedeutung des historischen Wissens für die rationelle Gestaltung von Gegenwart und Zukunft allen Landsleuten bewusst wird.“
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