BKDR-Fachtagung: „Deutsches Radio in Kasachstan – Rückblick und Perspektiven“
„Es gab Gott und danach Minna Wagner“, beschrieb Michael Mastel (Karlsruhe) die Beliebtheit der deutschen Sendungen in Kasachstan am Beispiel seiner Mutter und sprach damit zahlreichen Deutschen der Nachkriegszeit, die in Kasachstan, der Altairegion oder Omsk sehnsüchtig dem deutschen Wort aus dem Hörfunkgerät lauschten, geradezu aus der Seele.
Das Bayerische Kulturzentrum der Deutschen aus Russland (BKDR) lud Hermina Wagner und vier weitere ehemalige Mitarbeiter des deutschen Hörfunks in Kasachstan sowie weitere Experten aus den Bereichen „Deutscher Rundfunk“ und „Printmedien“ in der ehemaligen Sowjetunion, im heutigen Kasachstan und Deutschland zur Fachtagung „Deutsches Radio in Kasachstan – Rückblick und Perspektiven“ vom 18.-19. November 2023 in die Räumlichkeiten des BKDR ein. In diesem Jahr feierte das deutsche Programm in Kasachstan seinen 65. Gründungstag.
Die Teilnehmer wurden von Waldemar Eisenbraun (Leitung BKDR) auch im Namen des Vorsitzenden des BKDR-Trägervereins, Herrn Ewald Oster, herzlich begrüßt. In der Einführung berichtete Eisenbraun über die Aktivitäten des Kulturzentrums und betonte anhand von Videobeiträgen zur Einweihung 2019 sowie zur Veranstaltung „30 Jahre Spätaussiedler in Bayern“ die Bedeutung der Kulturstätte als „Leuchtturmprojekt“, das bundesweit einmalig ist. Anfang 2024 feiert das BKDR sein 5-jähriges Bestehen.
„Das war unsere Familie, wir lebten im Beruf“
Bereits in der Vorstellungsrunde des ehemaligen Radio-Teams wurden Erinnerungen wach: „Das war unsere Familie, wir lebten im Beruf.“ Hermina „Minna“ Wagner (Aschaffenburg), die als Stimme des deutschen Hörfunks in Kasachstan schlechthin bekannt war, kam 1966 zum deutschen Radio Alma-Ata und war bis 1990 als Ansagerin und Redakteurin tätig. Auch als Sängerin machte sie die deutschen Sendungen zum einzigartigen Erlebnis. Besonders beliebt waren die Wunschkonzerte.
Sie erzählte über die Anfänge und Entwicklungen der deutschsprachigen Radioprogramme in Kasachstan. Ergänzt wurden diese Rückblicke von anderen Teilnehmern. Nelly Hermann (Remagen) kam 1968 in die deutsche Rundfunkredaktion, wo sie als Tontechnikerin begann, später zur Tonregisseurin aufstieg, außerdem Übersetzungen anfertigte sowie Berichte, Reportagen und Skizzen verfasste. Auch sie war dort bis 1990 tätig.
Ida Kiefel (Karlsruhe) war von 1976 bis 1990 Tontechnikerin beim deutschen Radio in Kasachstan und „hatte die größte Plattensammlung“, ergänzte ihr Mann Michael Mastel, der das Radio-Team bis zur Auswanderung in die DDR 1980 und danach musikalisch unterstützte.
Niklas Kelsch (Ulm) wirkte von 1982 bis 1990 als Ansager und Regisseur und war zuständig für die Zusammensetzung der Sendungen, wobei er wahre Kunststücke vollbringen musste, um das erwünschte Ergebnis zu erreichen. Die meisten Mitarbeiter der deutschen Redaktion waren indes Frauen, die zur Arbeit nicht selten mit ihren Kindern kamen. Dazu hatte Dimitri German (Sohn von Nelly Hermann) Erinnerungen, die er mit den Tagungsteilnehmern teilte.
Emma Rische (Karlsruhe) gewährte im Laufe der Tagung Einblicke in ihre Tätigkeit als Moderatorin der deutschen Sendung „Altaier Weiten“ in Barnaul in den Jahren von 1983-1994. Sie war dafür bekannt, dass sie „Haare auf den Zähnen“ hatte und auch unbequeme Themen aufgriff: „Seit 1965 gab es auch deutsche Rundfunksendungen in der Altairegion. An die erste deutsche Hörfunksendung aus Barnaul kann ich mich nicht erinnern. Sie war auf einmal da und verdrängte nach und nach die aus Omsk, weil sie örtlichen Stoff zum Thema hatte.“
Die Journalistin, Buchautorin, Literaturkritikerin und Dichterin Rose Steinmark (Münster) blickte auf ihre Erfahrungen als Fernsehjournalistin, Chefredakteurin und Moderatorin der deutschen Sendung „Guten Abend!“ beim staatlichen Fernsehsender „Kasachstan I“ von 1990 bis Dezember 2000 zurück. Von 1981 bis 1992 war sie Leiterin der Literaturabteilung des einzigen deutschen Theaters der Nachkriegszeit in Temirtau/Kasachstan.
Die Redakteurin Nadja Runde (Nowyje semljaki), gleichzeitig Kinderbuchautorin, Dichterin und Verlegerin, erzählte über ihren Weg zur russlanddeutschen Kultur, den sie unter anderem dem russlanddeutschen Schriftsteller und Literaturkritiker Herold Belger (1934-2015) und anderen namhaften Vertretern der russlanddeutschen Literatur und Kultur verdankt.
Hunderttausende Deutsche in Kasachstan
Durch die Deportationen 1941 und später, aber auch durch weitere erzwungene und freiwillige Wanderungen (vor allem nach der Aufhebung der Kommandanturaufsicht durch den Erlass vom 13. Dezember 1955), wuchs die deutsche Bevölkerung in Kasachstan auf mehrere Hunderttausend an. Bereits 1945 erreichte die deutsche Bevölkerung eine Gesamtzahl von über 500.000 Personen. 1959 lebten in Kasachstan 659.751 Deutsche, 1970 waren es 839.649 Deutsche, und 1989, kurz vor der Auflösung der Sowjetunion und der massenhaften Auswanderung, lebten in Kasachstan 957.518 Deutsche. In den Gebieten Karaganda, Koktschetaw, Pawlodar oder Zelinograd betrug der Anteil der deutschen Bevölkerung bis zu 13 Prozent.
Schon angesichts der Bevölkerungszahlen war die Regierung gezwungen, sich Gedanken über „die Verbesserung des kulturellen Lebens der deutschen Bevölkerung des Landes“ zu machen mit dem Ziel, sie in den neuen Siedlungsgebieten zu verankern. Mit der Aufhebung der Kommandantur Ende 1955 und dem Erscheinen der ersten deutschsprachigen Zeitungen „Arbeit“ (1955-1957, Barnaul/Altairegion) und danach „Neues Leben“ (ab 1957 in Moskau), „Rote Fahne“ (ab 1957 in Slawgorod/Altairegion) und „Freundschaft“ (ab 1966 in Zelinograd/Kasachstan) sowie der deutschen Radiosendungen in Alma-Ata (bereits seit 1958), in Omsk, Frunse und Barnaul wurde die Volksgruppe zwar noch nicht rehabilitiert, aber das eisige Schweigen, das über 15 Jahre dauerte, war durchbrochen.
Ebenso wie die deutschsprachigen Zeitungen waren auch die deutschen Rundfunksendungen als Mittel der ideologischen Einwirkung auf die Deutschen in der Sowjetunion gedacht und unter diesem Vorbehalt auch geduldet. Die deutschsprachige Presse sowie der Rundfunk waren weniger Fürsorge um die nationale Entfaltung, sondern viel mehr ein Instrument der Partei und der Sowjets, die Russlanddeutschen zu kontrollieren. Sobald man die von oben vorgegebenen Rahmen zu sprengen versuchte, kamen Vorwürfe wie „Nationalismus bzw. nationalistische Bestrebungen“ auf den Tisch, die für verantwortliche Personen ein berufliches bzw. rechtliches Nachspiel hatten.
Journalisten, Schriftsteller und Lehrkräfte standen an den Anfängen
Im März 1958 wurde zuerst von der Regierung der UdSSR und danach vom Staatskomitee der Kasachischen SSR für Fernsehen und Rundfunk beschlossen, Hörfunkprogramme in deutscher Sprache für die deutsche Bevölkerung zu gründen. In Alma-Ata wurde 1958 die Redaktion des deutschen Rundfunks ins Leben gerufen, deren erste Sendung am 28. Mai ausgestrahlt wurde. Die Nachricht darüber verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Die Sendungen, je 30 Minuten um 13 Uhr, waren zunächst zweimal wöchentlich zu hören, später dreimal und häufiger und stellten für die deutsche Bevölkerung ein bedeutendes kulturelles Ereignis dar.
An den Anfängen des deutschen Rundfunks im kasachischen Radio standen namhafte Journalisten, Schriftsteller und Lehrkräfte. Erster Redakteur und Ansager war Johann Hallmann. Von 1963 bis Juli 1975 stand Dietrich Friesen an der Spitze der deutschen Radioredaktion, danach kurzweilig Peter Mai (Journalist, Publizist, Herausgeber; arbeitete bei der ersten deutschsprachigen Zeitung der Nachkriegszeit „Arbeit“ in Barnaul). Ab Ende 1975 bis 1983 war Georg Rau Chefredakteur des deutschen Programms, der eine bebilderte Chronik der Geschichte des deutschen Radios in Kasachstan hinterließ. Ihm folgte Adam März, unter anderem in denjenigen Zeiten, in denen die Auswanderungen sich mehr und mehr häuften.
Weitere Namen von Mitarbeitern (Literaten, Journalisten, Lehrer), die sich im Laufe der Zeit in verschiedenen Funktionen (als Redakteure, Ansager, Tontechniker, Regisseure) bestens bewährten und zum Erfolg der Sendungen beitrugen: Nora Pfeffer (1919-2012) und ihr Bruder Heinz Pfeffer (1923-2020 гг.), Ernst Kontschak (1903-1979), Herbert Henke (1913-1999), Elsa Ulmer, Konstantin Ehrlich, Hermina Wagner, Edmund Hering, Agnes Reitenbach, Olga Gololobowa (Beck), Alexander Frank, Johann Sauer, Saure Likjorowa, Lidia Zimbelmann, Ida Kiefel, Niklas Kelsch und andere.
Jede Sendung wurde mit Ungeduld erwartet. Man ließ alles stehen und liegen, lief zu den Radiogeräten, setzte sich bequem hin und lauschte sehnsuchtsvoll dem Klang der deutschen Sprache, der Muttersprache. Besonders für die älteren Deutschen, die bis 1938 noch deutsche Schulen besucht hatten, war die Möglichkeit nach dem langen Schweigen wieder die deutsche Sprache und Lieder zu hören wie eine Rückkehr in die Jugend, wobei die Zuhörer, anders als die Verantwortlichen auf Seiten der Partei, besonders an Volksliedern und nicht an Berichten über die Bestarbeiter interessiert waren. Größte Popularität genossen dabei Wunschkonzerte, die aufgrund der Hörerbriefe gestaltet wurden, sowie satirische Miniaturen, sogenannte „Schwänke“ in der Mundart. Rita Laubhan (Ludwigsburg), die damals in Semipalatinsk lebte, erinnert sich an eine Sendung, wo das Märchen „Rotkäppchen“ in verschiedenen Dialekten vorgetragen wurde. Dies fand sie so faszinierend, dass sie später in Deutschland ihr Wissen über die Mundarten der Russlanddeutschen vertieft hat.
In den kompakten deutschen Siedlungen in der Steppenregion Kasachstans war seit Anfang der 1960er Jahre eine Belebung der Laienkunstkollektive zu verzeichnen. Diese wurden von Kolchosen und Sowchosen unterstützt, da ihr Wirken nach Auffassung der Kommunistischen Partei Kasachstans zum Verbleib auf dem Lande und zur Steigerung der Produktivität beitrug. Sie festigte in Teilen der Bevölkerung auch das Nationalbewusstsein und das Streben nach Gleichberechtigung mit den anderen Völkern der Republik.
Die deutschen Radiosendungen aus Kasachstan hörte man nicht nur in der UdSSR, sondern auch in den Nachbarländern. Im Archiv-Album, zusammengetragen von Georg Rau, gibt es Zuschriften und Danksagungen aus den europäischen Ländern, aus Amerika und sogar aus Südafrika. „Wir erhielten bis zu 200 Briefe und Rückmeldungen der Zuhörer – wöchentlich!“, sagte Nelly Hermann.
Hermina Wagner: „Jeden Tag mussten wir zum Zensor fahren.“
Hermina Wagner wurde 1944 in der Familie von Schwarzmeerdeutschen auf der Flucht geboren. Im Zuge der Repatriierung landete die Familie mit sechs Kindern im nördlichen Russland, Gebiet Kostroma, in der Verbannung auf „ewige Zeiten“. 1958 durften die Wagners nach Alma-Ata ziehen. Entdeckt wurde die damalige Studentin der Fremdsprachenfakultät dank ihrer Stimme, die sich gut für den Hörfunk eignete. Zwischen 1966 und 1990 ging sie in ihrem Beruf als Ansagerin, Redakteurin und Sängerin auf. „Wir hatten ein Riesenglück, Leute zu haben, von denen wir lernen konnten – Nora Pfeffer, Ernst Kontschak, Heinz Pfeffer, Nelli Wacker oder Rosa Pflug. Jeder von der älteren Generation hatte unzählige Geschichten zu erzählen“, sagt sie.
„Es war eine Zeit, wo wir mit den Texten jeden Tag zum Zensor fahren mussten“, ergänzt Wagner. Die ideologische Ausrichtung der deutschen Sendungen war von vornherein festgelegt und wurde vom Zensor und dem Chefredakteur kontrolliert. „Der Inhalt jeder Sendung wurde ins Russische übersetzt und vor der Ausstrahlung vom russischen Chefredakteur unterzeichnet“, erzählte Emma Rische aus eigener Erfahrung in der Altairegion.
Der Literaturhistoriker, Publizist, Übersetzer und Herausgeber, Konstantin Ehrlich (Hamburg), war von März 1977 bis Dezember 1978 beim deutschen Hörfunk in Alma-Ata tätig. Bereits seit 1974 engagierte er sich als Redakteur der deutschen Sendung beim Gebietsradio Omsk. In einem Interview erinnert er sich an die Zeit:
„Die Massenmedien in der damaligen UdSSR wurden im Allgemeinen – und die der Russlanddeutschen im Besonderen – durch entsprechende Regularien der Machtstrukturen von Partei und Staat zentralistisch bevormundet. Wir russlanddeutschen Journalisten hatten es besonders schwer, denn wir hatten neben den üblichen allgemeinen Freiheitsbeschränkungen, die uns das Zensursystem setzte, stets darauf zu achten, dass wir uns – insbesondere in der Nationalitätenproblematik – keinen Fehltritt erlaubten. Dies war allgemein bekannt, und man hatte sich damit abzufinden…“.
Da es den Russlanddeutschen untersagt war, ihre Liebe zur angestammten Heimat (den Orten, aus denen sie während des Deutsch-Sowjetischen Krieges vertrieben wurden) zu pflegen und, Gott bewahre, diese noch offen auszusprechen – man bezeichnete solche Gefühle mit „Nostalgie“, eine schlimme Anschuldigung zu jener Zeit –, drückten die russlanddeutschen Literaten bzw. Journalisten diese Gefühle durch die Liebe zur Muttersprache aus. Und viele setzten sich auch leidenschaftlich gegen die Diskriminierung der deutschen Sprache ein, vor allem in den Gebieten bzw. Ortschaften, in denen die deutsche Bevölkerung relativ kompakt wohnte und aufgrund der fortschreitenden Assimilierung geistig dahinvegetierte…
Es war also nicht leicht, dem Druck ‚des sozialistischen Realismus‘ zu trotzen, d. h. mit der Zeit und der Ideologie Schritt zu halten und gleichzeitig den ureigenen Interessen der russlanddeutschen Hörerschaft gerecht zu werden. Man bewegte sich nämlich nicht selten auf Messers Schneide, war auf der steten Suche nach einem Weg durch das Dickicht der einschränkenden Verordnungen zur freien Ausübung des Journalistenberufs. Ich fand ihn jedoch, diesen Weg, indem ich mich des ideologischen Instrumentariums der herrschenden Schicht bediente: So flocht ich in das Textgewebe ab und zu Zitate von Partei- und Staatsfunktionären oder eines der Klassiker des Marxismus-Leninismus ein, was seine Wirkung keinesfalls verfehlte. Da unsere Geschichte tabu war, musste ein russlanddeutscher Journalist, Publizist oder Geschichtsschreiber stets eine Rückzugsmöglichkeit für sich parat haben, einen toten Winkel sozusagen, um dort Halt zu finden und neu aufzurüsten.“ („Die Kunst eines gewissenhaften russlanddeutschen Redakteurs bestand darin, die Klippen des sozialistischen Realismus … zu umgehen“, um nicht an ihnen zu zerschellen. Konstantin Ehrlich im Interview mit Nina Paulsen, in: Paulsen / Gossen, Begegnungen – russlanddeutsche Autoren im Gespräch und Porträt, Band 1, BKDR-Verlag, Nürnberg 2021).
„Die musikalischen Einlagen und die Wunschkonzerte am Freitag waren für die Hörer das Herzstück der Sendungen. „Die Redaktion hatte zuerst keine Phonothek, außer einer Sammlung klassischer Musikwerke. Ich begann deutsche Volkslieder zu singen, die ich von meiner Mutter gehört und gelernt hatte. Trotz der großen Kinderschar und ständiger Hausarbeit hatte sie immer gesungen. Wenn Freunde oder Bekannte sich im Haus versammelten, wurde auch stets gesungen. Damit bin ich aufgewachsen. Ich wollte unbedingt all diese Lieder in Orchesterbegleitung auf Tonband aufnehmen, um diese dann in den Sendungen vorzuspielen. Im Orchesterleiter und Dirigent Wassili Lissiza (eigentlich Wilhelm Fuchs) fand ich für dieses Vorhaben einen leidenschaftlichen Befürworter. Er machte die musikalischen Arrangements der Lieder, die wir dann im Studio aufs Tonband gebracht haben.“, erzählt Wagner, die jahrelang Solistin beim Orchester war.
Die Traditionen sind nach wie vor lebendig – die Zeiten ändern sich
Die Radiosendungen in deutscher Sprache sind nach wie vor wesentlicher Bestandteil des multinationalen Lebens in der Republik. In den Rundfunkbeiträgen finden Gespräche zum Thema „Wie leben die Deutschen in Kasachstan?“ statt. Zu verschiedenen Zeiten wurden Themen aufgegriffen wie „Unsere geistigen Werte“, „Die Kraft der Freundschaft“, „Neuigkeiten der Gesellschaft ‚Wiedergeburt‘“, „Der Rat der Deutschen Kasachstans“, „Kulturelles Erbe“, „Menschen und Schicksale“.
Durch die massenhafte Auswanderung der Deutschen in die Bundesrepublik nahm das deutsche Programm deutlichen Schaden. Viele Mitarbeiter verließen Kasachstan. In den 1990er Jahren kamen neue Mitarbeiterinnen in die Redaktion: Gulsada Tasabekowa und Asel Turekulowa. Sie setzten die Traditionen der deutschen Redaktion der alten journalistischen Schule fort. In ihren Radioprogrammen berichteten sie unter anderem über Schulen, an denen die deutsche Sprache unterrichtet wurde, über das Deutsche Theater in Almaty, über die Arbeit der deutschen Kulturzentren, über die Tätigkeit des Deutschen Hauses, über das Goethe-Institut. Einzelne Sendungen widmeten sie dem Leben und Schaffen wichtiger kasachisch-deutscher Wissenschaftler und Schriftsteller.
Die deutsche Redaktion des „Kasachischen Radios“ wird vom kasachischen Staat finanziert. Seit 2004 wird das Programm auch von der „Deutschen Welle“ unterstützt. Seit 2005 steht die Chefredakteurin und Moderatorin Tatjana Shandildina an der Spitze des deutschen Rundfunks in Kasachstan. 65 Jahre nach der Gründung erscheint die Radiosendung in deutscher Sprache in Kasachstan in der multiethnischen Zusammensetzung der Redaktion „Dostyk“ (kasach. „Freundschaft“) mit einer Länge von 30 Minuten wöchentlich (15 Minuten in deutscher Sprache – „Brücken“ und 15 Minuten in russischer Sprache – „Kasachstan ohne Grenzen“).
Rückwanderung und Neuanfang – berufliche Biografien in Deutschland
In Deutschland konnten die ehemaligen Radiomitarbeiter zwar nicht in ihre herkömmlichen Berufe einsteigen, aber jeder fand seinen eigenen Weg. Nach ihrer Übersiedlung in die Bundesrepublik 1990 arbeitete Hermina Wagner zunächst im Bundesverwaltungsamt in Hannover und betreute Aussiedler in einer Gemeindeverwaltung. Durch ihr Engagement in der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland gelangte sie nach Bayern und lebte in der Nähe von Aschaffenburg. Dort gründete sie den Integrationsverein „Deutsche aus Russland e. V.“. Dank der vielfältigen Integrationsarbeit stellte die Stadt auch Räumlichkeiten zur Verfügung. Hermina Wagner singt im Chor, ist nach wie vor ehrenamtlich aktiv, reist viel und verbringt Zeit mit Kindern und Enkeln.
Die Zeit am deutschen Radio ist unvergesslich: „Wir haben gemeinsam viel erlebt. Auch in Deutschland halten wir nach wie vor Kontakt und treffen uns ab und zu.“ In den Vereinsräumlichkeiten konnte sie ebenfalls Treffen mit ehemaligen Kollegen organisieren, zu denen immer wieder Konstantin Ehrlich, Nelly Hermann, Lydia Zimbelmann, Olga Gololobowa, Niklas Kelsch oder auch Heinz Pfeffer gekommen sind.
2021 wurde die Journalistin und Integrationsberaterin als Zeitzeugin im Haus der Bayerischen Geschichte in München interviewt. Zum Beitrag gelangen Sie HIER!
Am 26. Mai 2023 war Hermina Wagner zur feierlichen Eröffnung der Sonderausstellung des Hauses der Bayerischen Geschichte unter dem Titel „Neuanfänge – Heimatvertriebene in Bayern“ im Nürnberger Stadtarchiv eingeladen, die bis zum 15. Oktober zu besichtigen war. Im Rahmen der Ausstellung wurden analoge und digitale Unterrichtsmaterialien mit Zeitzeugengesprächen (darunter Hermina Wagner) und deren praktische Einsatzmöglichkeiten präsentiert. Die digitale Erzählung „Neuanfänge“ bringt die Inhalte von Ausstellung und Plakatserie ins Netz – angereichert um interaktives Kartenmaterial, Interviews mit Zeitzeugen und Fotos. Dieses ebenso innovative wie anschauliche Angebot können Lehrkräfte im Unterricht oder Schüler bei Recherchen von zuhause aus einsetzen. Das Angebot finden Sie HIER!
Auch andere ehemalige Radiomitarbeiter haben sich in Deutschland nicht verloren. Nelly Hermann engagierte sich zunächst in der Kirche und war 17 Jahre in der Verwaltung der Deutschen Forschungsgemeinschaft in Bonn tätig, hat ehrenamtlich Deutsch für Aussiedler unterrichtet und sich bei der Gustav-Stresemann-Stiftung als Übersetzerin und Dolmetscherin engagiert. Ida Kiefel arbeitet 20 Jahre im Landesmuseum Karlsruhe. Für Michael Mastel bildete Musik auch im vereinten Deutschland die Grundlage seiner Existenz. Niklas Kelsch hat sich im Bereich Versicherungen/Finanzierungen selbstständig gemacht, jedoch spielt Musik auch für ihn nach wie vor eine große Rolle – privat hat er immer noch Schüler.
Massenmedien heute: Beispiele aus Kasachstan und Deutschland
Am Sonntag wurde die Tagung unter dem Thema „Massenmedien heute: Beispiele aus Kasachstan und Deutschland“ fortgesetzt. Aus Almaty war Olesja Klimenko zugeschaltet, seit über 18 Jahren Chefredakteurin der DAZ („Deutsche Allgemeine Zeitung“, Nachfolgerin der deutschsprachigen Tageszeitung „Freundschaft“), die über die Aktivitäten der Zeitungsredaktion anhand einer Power-Point-Präsentation erzählte. Zum Tag der Republik am 24. Oktober wurde sie mit dem Orden „Ел бірлігі“ (deutsch: Für Eintracht) ausgezeichnet.
Die Berichterstattung auf 12 Seiten wöchentlich (auf Deutsch, Russisch und Kasachisch) widmet sich den Schwerpunkten wie dem Leben, die Geschichte und Kultur der deutschen Minderheit in Kasachstan und Zentralasien, den aktuellen Nachrichten aus den Regionen, Informationen der Stiftung „Wiedergeburt“, der Minderheitenpolitik der Republik Kasachstan, den Beziehungen zwischen Kasachstan und Deutschland und politischen, wirtschaftlichen sowie sonstigen Ereignissen beider Länder.
Damit wendet sich die Zeitung an die interessierten Deutschen in Kasachstan und im GUS-Raum, an Deutschlehrer, Schüler und Studenten, weiterhin an Geschäftsleute, Experten sowie Touristen in Kasachstan und Deutschland. Unterstützung bekommt die DAZ vom Bundesinnenministerium im Rahmen des Förderprogramms für die deutsche Minderheit in Kasachstan und vom ifa-Institut Stuttgart (ifa-Redakteure). Immer wieder arbeiten auch junge Praktikanten aus Deutschland bei der Zeitung. Darüber hinaus haben DAZ-Mitarbeiter die Möglichkeit, sich in Deutschland weiterzubilden. Zu den Partnern gehören außerdem die Zeitungen “Moskauer Deutsche Zeitung”, “Volk auf dem Weg” und “Nowyje semljaki”, das “Bayerische Kulturzentrum der Deutschen aus Russland (BKDR)”, die Deutsche Welle, das Goethe-Institut, die Internationale Medienhilfe, die Deutsche Gesellschaft e. V. und weitere Institutionen.
Im Vergleich dazu sei das Radio in Deutschland dank der nachhaltigen Tendenz zur trimedialen Vernetzung (ein Thema – drei Medien: Radio, Fernsehen, Online/Social Media) nach wie vor beliebt, meinte die Referentin Eleonore Birkenstock, Journalistin unter anderem für den Bayerischen Rundfunk. Sie thematisierte die Besonderheiten der Rundfunkberichterstattung in Deutschland und speziell in Bayern.
Auch nach 100 Jahren Entwicklungsgeschichte mit Höhen und Tiefen – am 29. Oktober 1923 wurde von der Sendestelle Berlin die erste offizielle Rundfunksendung in Deutschland ausgestrahlt – ist das Radio in Deutschland ein gern gehörtes Medium geblieben. Mit Livereportagen, Lesungen, Diskussionen und Interviews bleibt das Radio nach wie vor prägend für die deutsche Kultur und Sprache. Es erfand ganz neue Kunstformen wie das Radiohörspiel, die Radiolesung oder die Radiodokumentation und ist so konkurrenzfähig geblieben.
Eleonore Birkenstock war fast drei Jahre alt, als ihre Familie nach Deutschland kam. „Jede Migration ist ein Bruch. Ein Bruch in der Identität. Man gibt seine alte Identität auf, das Leben, die Arbeit, die Freunde in der alten Heimat. Und baut sich eine neue in der neuen Heimat auf.“, bestätigte sie die Erfahrungen der anderen Tagungsteilnehmer. Und weiter: „Bei uns Kinder hat das einigermaßen funktioniert. Bei meinen Eltern bin ich mir nicht so sicher. Sie haben wohl zu viele Brüche in ihrem Leben erleben müssen. Sie sind nach Deutschland gekommen, sie haben gearbeitet in der Fabrik und bei der Post, sie haben ein Auto gekauft und ein Haus gebaut. Aber so richtig zu Hause, denke ich, fühlten sie sich nie.“
Ihre Eltern wurden im Schwarzmeergebiet geboren (der Vater noch kurz vor dem 2. Weltkrieg) und mussten 1944 als Kinder mit ihren Familie auf die Flucht in den Westen gehen. „Erst kurz vor dem Tod meines Vaters habe ich erfahren, dass er auf dieser Reise auch einen Bruder verloren hat: Josef, neun Monate alt. Das Kind wurde abends begraben, irgendwo im Nirgendwo, am nächsten Tag zog der Treck weiter. Zeit zum Trauern blieb da nicht“, erzählt Birkenstock im Beitrag.
Nach 1945 folgte, was viele Deutsche aus Russland kennen: Repatriierung nach Archangelsk in Nordrussland am Weißen Meer und ein trostloses Leben in einer Holzbarracke – mit Kälte und Hunger als ständige Begleiter. Ihre Eltern hatten sich Anfang der 1960er Jahre in Archangelsk kennengelernt und geheiratet. Sie wollten nach Deutschland, der Ausreiseantrag wurde abgelehnt. Nachdem Freunde und Verwandte nach Estland gegangen waren, folgte ihnen auch die Familie Birkenstock. Der nächste Ausreiseantrag wurde genehmigt, im Februar 1978 die Ankunft in Deutschland – Eleonore die jüngste von vier Kindern: „Ich habe mich als Kind immer frei gefühlt. Im Innenhof unserer Hochhaussiedlung in Bonn-Tannenbusch waren immer Kinder, mit denen ich spielen konnte. Sie stammten aus Afghanistan, Ungarn, den Philippinen, Äthiopien, der Türkei, dem Iran, Ungarn und Deutschland. Wir verständigten uns auf Deutsch. Unsere Eltern haben sich nicht miteinander unterhalten, da gab es kaum Berührungspunkte. Aber wir Kinder, wir waren immer zusammen. Und das Tolle war: Zu diesem Zeitpunkt – im Grundschulalter – waren wir alle gleich: Es zählte, wer du bist, und nicht, was du hast oder woher du kommst. Und diese Erfahrung prägt mich bis heute“, so Birkenstock.
Nach dem Abitur (1994) – dazwischen ein Jahr Job- und Reiseerfahrungen – studierte sie bis 2000 Theater- und Medienwissenschaften und Musikwissenschaften in Erlangen. Neben dem Studium hat sie immer gearbeitet und Praktika gemacht. Über Umwege kam sie zum Privatfernsehen und hat bei RTL Franken Live von 2001 bis 2003 gearbeitet. Nach einer Zwischenstation in Berlin hat sie sich 2003 beim Bayerischen Rundfunk in Nürnberg beworben und wurde genommen. Erst als Praktikantin, dann als freie Mitarbeiterin. „Ich bin mit Leib und Seele Journalistin und arbeite nun inzwischen seit 20 Jahren als Reporterin für die Radioprogramme des Bayerischen Rundfunks. Armut, Gesellschaft, Arbeitsmarkt und Integration sind meine Themen“, sagt Birkenstock. Und schlussfolgert weiter: „Ich bin zwar hier aufgewachsen, spüre aber noch die Nachwirkungen der Umbrüche, der Katastrophen und Trauer, die meine Eltern erleben mussten. Obwohl sie so viele Neuanfänge in ihrem Leben hatten, ist ein großes Thema die Angst vor Veränderungen – dass alles ganz anders wird, als es vorher war. Ich versuche, die Risse zu erkennen, Ängste die sich durch so viele Brüche ergeben haben, zu überwinden. Ich finde so zu einer Identität. Fühle ich mich als Russlanddeutsche? Fühle ich mich als Deutsche? Ich mag solche Fragen nicht besonders, weil ich ehrlich gesagt nicht weiß, was mich als Russlanddeutsche oder als Deutsche ausmacht. In erster Linie bin ich ein Mensch. Vielleicht aber auch eine in Estland geborene, im Rheinland aufgewachsene Nürnberger Journalistin, Ehefrau und Mutter mit russlanddeutschen Wurzeln und mit einem deutschen Pass. Vielleicht ist das eine Definition. Ich finde das klingt interessanter als so manch andere Biografie.“
Abschließend moderierte Waldemar Eisenbraun das Gespräch über Projektideen und Perspektiven, wobei vor allem Vorschläge auf den Tisch kamen, die der Aufrechterhaltung der russlanddeutschen Kultur und deren Dokumentation dienen, die etwa die BKDR-Bildungsreihe „Akademische Viertelstunde“ und Podcasts mit Zeitzeugen. Auch eine „Retro“-Sendung mit ehemaligen Mitarbeitern des deutschen Radios wurde thematisiert. Gleichermaßen schwebten den Teilnehmern musikalische und kulinarische Projekte vor. „Es leben noch viele Zeitzeugen und Kulturträger der russlanddeutschen Kultur der Nachkriegszeit. Das, was wir noch haben, müssen wir aufgreifen“, brachte Dimitri German, Vorsitzender des Kulturrates der Deutschen aus Russland, den gemeinsamen Wunsch auf den Punkt.
Zusammenfassung: Nina Paulsen, Nürnberg
Fotos: BKDR, DAZ.
Nachstehend einige Impressionen der Fachtagung sowie Plakate aus der damaligen Zeit in Kasachstan.