Diplom der Halbstädter Kommerzschule aus dem Jahr 1916

Das vorliegende Attest in dieser Form ist eine selten gut erhaltene Urkunde einer höheren Lehranstalt (Mittelschule) der Kommerzschule, die direkt von den deutschen Siedler-Kolonisten in ihrer Ortschaft errichtet und betrieben wurde. Doch was genau ist eine Kommerzschule? Nachstehend ein Beitrag über eine Kommerzschule in deutscher Sprache:

Halbstadt war eines der geistigen Zentren der deutsch-mennonitischen Bevölkerung im Russischen Reich. Mehrere höhere Bildungsanstalten, die dort und in anderen mennonitischen Ortschaften entstanden sind, legten ein beredtes Zeugnis über die wachsende Bedeutung der Bildung unter den deutschen Ansiedlern insgesamt und insbesondere unter der mennonitischen Landbevölkerung zu Beginn des 20. Jahrhunderts dar.

Auf Betreiben des örtlichen „Mennonitischen Schulvereins“ und seines Ablegers, des „Mennonitischen Bildungsvereins“, wurde im Jahr 1907 eine private Realschule in der Siedlung Halbstadt gegründet. Es hat sich jedoch sehr schnell herausgestellt, dass solch eine höhere Lehranstalt im Bestand des Handelsministeriums mit weniger Auflagen und Einschränkungen als beim Ministerium für Volksbildung rechnen musste. Daher ließ man diese Schule in eine Kommerzschule mit zusätzlichen Unterrichtsfächern umwandeln.

Attest der Halbstädter Kommerzschule, Originalurkunde auf Russisch:

Attest der Halbstädter Kommerzschule, Übersetzung ins Deutsche:

1910 bestand sie aus sechs Klassen und wurde kurz vor dem Ersten Weltkrieg in eine vollständige achtklassige Bildungsanstalt ausgebaut. Die Handelsschule erhielt die Rechte einer staatlichen Realschule. Unter anderem durften die Absolventen an den technischen, tierärztlichen u. a. spezialisierten Hochschulen studieren. 1915 kam für sie noch das Recht hinzu, sich nach den bestandenen Lateinprüfungen im Umfang eines klassischen Gymnasiums an einer „regulären“ Universität immatrikulieren zu dürfen. Nachstehend der Verweis auf einen Lexikonartikel auf Russisch:

Dies war eine mit hohen Ansprüchen ausgestattete Lehranstalt, die ihren Schülern ein solides Pensum an theoretischem und praktischem Wissen vermittelte. Die meisten Lehrjungen stammten aus dem bäuerlich-mennonitischen Milieu. Es handelte sich faktisch um eine nationale Bildungsstätte, obwohl die Unterrichtssprache obligatorisch Russisch sein musste. Das Lehrerkollegium sowie der Trägerverein trugen dafür Sorge. Mit kriegsbedingten Unterbrechungen existierte sie bis 1923 und wurde danach in eine Agrarschule sowjetischen Typs umgewandelt.

Als Lehrer wirkten in der Kommerzschule hochgebildete und erfahrene Pädagogen wie Benjamin Unruh, Absolvent der Universität Basel (unterrichtete Religion und Deutsch), Kandidat der Theologie Sergej Astrow, Lehrer für Russisch, Absolvent der Dorpater Universität Peter Wiens (Direktor der Anstalt bis 1911, unterrichtete Mathematik) sowie Peter Letkemann, Absolvent der Charkower Kommerzschule und des St. Petersburger Polytechnikums und Lehrer für Handelswissenschaften (wurde 1918 während der Revolutionswirren ermordet), um nur einige Namen zu nennen.

Einige Worte zum Absolventen Gerhard Wilms (Гергард Францевич Вильмс): Er ist 1893 in Kleefeld (Stepnoje), Mennoniten-Brüdergemeinde Rückenau, an der Molotschna, Amtsbezirk Halbstadt, Kreis Berdjansk im Gouvernement Taurien geboren.

Foto von Gerhard Wilms.

Der Vater war Großgrundbesitzer in dieser Gemeinde, beschäftigte sich mit der Landwirtschaft und legte allem Anschein nach großen Wert auf die Ausbildung seiner Kinder: Gerhard begann im August 1916 das Studium am Dorpater Veterinärinstitut, sein älterer Bruder Franz Wilms (1890) studierte Medizin an der Universität ebenfalls in Dorpat. Verschiedenen Quellen zufolge soll Gerhard 1928 nach Paraguay ausgewandert sein. Seine zwei Brüder Franz und Iwan (1902) lebten bis 1937 in Kleefeld und wurden am 29. November d. J. im Zuge der „Deutschen Operation“ des NKWD erschossen.