Deutsche Minderheitenliteratur auf der Anklagebank

Dokument des Monats

Die geistige und materielle Kultur der Deutschen in der UdSSR wurde nach 1941 fast komplett ausgelöscht. Lediglich Überreste dieses Kulturerbes weisen heute noch auf das einst vitale wirtschaftliche und kulturelle Leben dieser Minderheit in der Russischen Föderation und der Ukraine hin. Der fast ein Jahr lang andauernde Krieg in der Ukraine wird wohl unwiederbringlich die noch verbliebenen Spuren vernichten, weil die Frontlinie teilweise unmittelbar durch die einstigen Siedlungsgebiete der deutschen Minderheit verläuft.

David Schellenberg, Sowjetdeutscher Schriftsteller (1903-1954)

Allerdings begann die kulturelle Zerstörung wesentlich früher. So findet man heute Relikte des literarischen Erbes von ukrainisch-deutschen Literaten fast ausschließlich in den alten Strafakten. Bislang fehlen jegliche Hinweise auf die Existenz von Nachlässen auch nur eines einzigen sowjetdeutschen Literaten aus der Zwischenkriegszeit. In einer Reihe von politischen Strafprozessen der Jahre 1929–1936 wurden beinahe alle Schriftsteller, Zeitungs- und Zeitschriftenredakteure, Journalisten, Hochschullehrer, Übersetzer etc., d. h. die gesamte bis dahin kreativ wirkende „Intelligenz“ der deutschen Minderheit der Ukraine, verhaftet und abgeurteilt. Die wenigen übriggebliebenen auf Deutsch Schreibenden fielen dem großen Terror der Jahre 1937/38 zum Opfer.

Einer der größten Gruppenstrafprozesse war das Verfahren gegen neun deutsche Kulturschaffende in den Jahren 1935–1936. Die Angaben zu den involvierten bzw. angeklagten Personen sind noch lückenhaft und werden nach und nach vervollständigt. Ihnen wurden damals übliche Verfehlungen vorgeworfen: Mitgliedschaft in einer konterrevolutionären Organisation, nationalistische und faschistische Propaganda in den Printmedien, Verbreitung nationalistischer und faschistischer Theorien in ihren literarischen Werken, Diskreditierung von Partei- und Komsomolkadern usw.

Am 4. März 1936 wurden angeklagt:[1]

  • FICHTNER, Gottlieb (1906–1938), geb. in Hoffnungstal, Kreis Odessa. Schriftsteller und Redakteur der Zeitschrift „Neuland“ (Charkow), erschossen nach der zweiten Verhaftung im Fernen Osten.
  • FONDIS, Friedebert (1902–1943?), geb. in Alt-Bajaut (Stary Bajaut) auf der Krim. Schriftsteller und Redakteur, u. a. der Zeitung „Der deutsche Kollektivist“ in Halbstadt. Stellvertretender Redakteur der Republikzeitung „Das neue Dorf“. 1938 erneut verhaftet und vermutlich im Lager umgekommen.
  • KNORRE, Richard (1905–1947), geb. in Hannover, Deutschland. Ab 1923 in der UdSSR. Journalist, Literaturkritiker, Redakteur einiger deutschsprachiger Zeitungen in der Ukraine wie „Trompete“ und „Jungsturm“. Er begann Selbstmord in Nowosibirsk.
  • SCHELLENBERG, David (1903–1954), geb. auf einem Weiler unweit der Station Sofiewka, zu Sowjetzeiten Gebiet Dnjepropetrowsk. Ab dem Alter von 3 Jahren lebte er in Halbstadt (Molotschansk). Lyriker, Schriftsteller, Redakteur der Literaturzeitschrift „Sturmschritt“. Autor des ersten sowjetdeutschen Romans „Lechzendes Land“, 1930. Gestorben in der Verbannung im Gebiet Magadan.
  • NICKEL, Samuel (1903 – ges. nach 1960), geboren in der deutschen Siedlung Andrejewka, Kreis Schitomir. Lehrer, Publizist, Redakteur der Zeitschrift „Kommunistische Erziehung“ und später stellvertretender Redakteur der Republikzeitung „Das neue Dorf“, Leiter des Lehrerkollektivs am Chortitzer deutschen pädagogischen Technikum. Nickel ist Verfasser des Buches „Die Deutschen in Wolhynien“, 1935. Lebte nach der Strafverbüßung in Nowosibirsk.
  • SCHWARZ, Alfred (1893 – 1938), geb. in Oberhohndorf, einem Vorort von Zwickau, ehem. Kriegsgefangener. War ein verantwortlicher Mitarbeiter der deutschen Abteilung des Ukrainischen Verlags für nationale Minderheiten (Ukrnazmenisdat) in Charkow, eine Zeitlang bekleidete er den Posten des Redakteurs der Literaturzeitschrift „Sturmschritt“. Ist bei einem Schiffbruch im Fernen Osten umgekommen.
  • DEUTSCH, Peter (1905 – ges. nach 1936), geb. in Woronzowka (Michelsdorf), zu Sowjetzeiten Region Krasnodar. Referent des Volkskommissariats für Bildung der Ukraine, zuletzt Dozent an der Linguistischen Hochschule in Charkow.
  • SIMANI, Wladimir (1913–1993), geb. in Zürichtal auf der Krim, Mitarbeiter der deutschen Abteilung des Ukrnazmenisdat, Redakteur der Zeitung „Jungsturm“. Zuletzt in Helenendorf, Republik Aserbaidschan als Instrukteur der Kreiszeitung „Lenins Weg“ tätig. 1944 erneute Verurteilung zu 10 Jahren „Besserungs-Arbeitslager“. Lebte nach 1953 in Pawlodar, Kasachstan.
  • FOSS, Karl (1906 – ges. nach 1936), geb. in Berlin, Emigrant. Stellvertretender Redakteur der Komsomol-Zeitung „Jungsturm“.

Die zweite, etwas überarbeitete Anklageschrift folgte am 19. Juli 1936, in der Liste der Verurteilten fehlen Karl Foss[2] und Wladimir Simani; der Letztere wurde in einer anderen Strafangelegenheit zu fünf Jahren Straflager verurteilt. In den Gerichtsverhandlungen zwischen dem 13. und 17. August 1936 wurden die Deutschen vom Gebietsgericht Charkow zu 3 bzw. 5 Jahren Freiheitsentzug im Straflager verurteilt. Im späteren Beschluss vom 24. Juni 1960 befand das Präsidium des Obersten Gerichts der Ukrainischen Unionsrepublik diese Personen für unschuldig und rehabilitierte sie.

Aus dieser umfangreichen, fünf Bände umfassenden Strafakte, haben wir eine mit Bleistift verfasste Erwiderung des Schriftstellers David Schellenberg, des führenden Vertreters der neuen, sowjetdeutschen Literatur der Ukraine (siehe dazu auch die Notiz von Reinhard Köln in der Zeitung „Neues Leben“ vom 7. Februar 1968) ausgewählt.

Nicht nur Schellenberg, sondern auch andere Beschuldigte reagierten mit zahlreichen Eingaben und Protestschreiben auf die erste Anklageschrift vom 4. März 1936. Die Gerichtsbehörde sah sich gezwungen, ein Gutachten von literarischen Werken der angeklagten deutschen Autoren erstellen zu lassen.

Beauftragt wurden vier vertrauenswürdige Personen, die des Deutschen mächtig waren, aber mit der sowjetdeutschen Literatur nichts im Geringsten zu tun hatten. Die von ihnen erstellte, 27 Seiten umfassende, „literatur-politische Expertise“ – so die wörtliche Bezeichnung – vom [unleserlich] Juni 1936 ergab nach der Begutachtung der Werke von David Schellenberg Folgendes:


„Der rote Faden, der sich durch die Werke von SCHELLENBERG zieht, dient allein dazu, wo es immer nur möglich ist, die Partei zu diskreditieren, die Kleinbauern zu verleumden, alle Arten von konterrevolutionären, trotzkistischen und rechtsopportunistischen Theorien einzuschmuggeln, Agitieren für die und Propagieren der uns feindlich gesinnten Theorien (menschewistische, großbürgerliche, faschistische), die besten Vertreter unserer Wirklichkeit zu verhöhnen, bestehende Unzulänglichkeiten wahllos zu verallgemeinern und somit unsere sowjetische Lebenswirklichkeit abzuwerten.“

In seinem Protestschreiben bzw. seiner Erwiderung vom 10. Juli 1936 bezeichnete Schellenberg dieses Gutachten als „oberflächlich“ und versuchte, die wesentlichen Kritikpunkte und Unterstellungen zu entkräften.

Erwiderung von David Schellenberg auf das Gutachten (zum Download):

  • Russischsprachiges Original als PDF (Unterstreichungen und Hervorhebungen mit Bleistift wurden vom Autor selbst gemacht, die in Rot vom Untersuchungsrichter)

Auch wenn Schriftsteller Schellenberg ein Kind seiner Zeit war und der kommunistischen Weltanschauung ganz ergeben, bewies er in dieser verzweifelten Lage Entschlossenheit, Mut und Selbstachtung. Dies bezeugen vor allem die letzten Worte seiner Stellungnahme: „Doch niemand hat das Recht, meine gesamte Arbeit zu verunglimpfen, meine Werke, die früher als würdig eingestuft worden waren, um mich in den Schriftstellerverband aufzunehmen.“  In der Gerichtsverhandlung am 13. August 1936 in Charkow gab er ebenfalls unmissverständlich zu Protokoll: „Ich bekenne mich der konterrevolutionären Aktivitäten nicht schuldig, doch gestehe ich Fehler ein.“ [bei der schriftstellerischen Tätigkeit]

Ausschnitt aus dem Originaldokument

Wir beabsichtigen in der kommenden Zeit, weitere bislang unbekannte Dokumente aus dieser und anderen Strafakten zu veröffentlichen, die uns einen vertieften Einblick in das literarische, publizistische und insgesamt in das kulturelle Leben der deutschen Intellektuellen in der Ukraine in der Zwischenkriegszeit ermöglichen.


[1] Zu den Lebensläufen der Schriftsteller und Literaturkritiker mit einer knappen Analyse ihres Schaffens – wenn auch mit einigen Fehlern und Ungenauigkeiten behaftet – siehe u. a.: Annette Moritz: Lexikon der Russlanddeutschen Literatur. Essen 2004 (Forschungen zur Geschichte und Kultur der Russlanddeutschen; Jg. 12, Sonderheft); Herold Belger: Russlanddeutsche Schriftsteller. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Biographien und Werksübersichten. Erweiterte Neuauflage. Berlin 2010. Darüber hinaus verfasste Erst Kontschak, der selbst mehr als 15 Jahre in einem Straflager in Norilsk am Polarkreis verbracht hatte, persönliche Portraits seiner Kollegen und Mitstreiter, deutscher Literaten aus der Ukraine, allerdings mit üblichen Auslassungen und Verzerrungen, die den Umständen geschuldet sind. S. Ernst Kontschak: Unvergessliche Begegnungen, Alma-Ata 1975.

[2] Foss wurde am 5. Oktober 1936 als geisteskrank befunden.