Schicksale hinter einer alten Fotografie
Dokument des Monats
Uns liegt ein seltenes Bild vor, das schätzungsweise Ende 1911, Anfang 1912 in Dorpat gemacht wurde (früher auch als Jurjew bzw. heute als Tartu in Estland bekannt, bis 1917 gehörte die Stadt zum Gouvernement Livland in Russland). Das Bild zeigt eine Gruppe von Studierenden der Universität Dorpat, die zugleich Mitglieder der Korporation Teutonia waren.
Diese Studentenverbindung ist für uns insofern von Bedeutung, weil sie im Zarenreich die einzige „klassische Korporation“ von Studenten war, welche dem einstigen „Kolonistenstand“ entstammten (ab 1871 sogenannte Siedler-Eigentümer, Teil der russischen Bauernschaft). Alma mater Dorpatensis, die Kaiserliche Universität Dorpat, spielte damals eine zentrale Rolle beim Entstehen der ersten akademischen Bildungsschicht unter deutschen Siedlern in Russland. Teutonia wurde am 17. Februar 1908 zunächst als sog. „Südländerverein“ gegründet und erst einige Monate später, am 4. Dezember 1908, in eine Korporation (Corps) umgewandelt. Die Aufnahme in den bereits bestehenden Chargierten-Convent, Verband der anerkannten studentischen Verbindungen in Dorpat, fand am 23. November 1912 statt.
Dieses Bild wurde bereits einige Male veröffentlicht. Allerdings wusste man bislang nicht eindeutig, wer genau darauf abgebildet ist. Nun haben umfassende Recherchen in diversen Archiven in Estland, der Ukraine, Russland, Deutschland, Kasachstan und den USA weitgehend Klarheit darüber gebracht. Auch die Lebenswege der hier abgebildeten Personen, der sogenannten „Kolonistensöhne“, sind zum großen Teil erforscht. Doch nach Details zu diesem Thema suchen wir weiterhin laufend.
Falls jemand von den Leserinnen und Lesern weiterführende Informationen oder sogar Material (Zeugnisse, Bilder, Briefe, Publikationen etc.) zu den unten erwähnten Personen besitzt, dann wären wir Ihnen sehr dankbar, wenn Sie uns diese in Kopie zur Verfügung stellen würden. Sechs Personen auf dem Bild gehörten zu den Gründungsmitgliedern dieser Studentenverbindung (ihre Namen nachfolgend in kursiver Schrift).
Hintere bzw. 3. Reihe, stehend, v. l. n. r.:
1. Gustav Witt (1885–1938), studierte Theologie von 1911 bis 1916, diente als Pastor auf der Krim und wurde nach einem Strafprozess in Simferopol erschossen.
2. Dietrich Rempel (1887–1966), stud. Medizin von 1910 bis 1918, Auswanderung 1922 in die USA, dort als Arzt tätig.
3. Samuel Wuchrer (1887–1919), stud. Theologie von 1909 bis 1912, danach Pastor im Transkaukasus, wurde von einer Räuberbande ermordet.
4. Albert Koch (1888–1937), stud. Theologie von 1910 bis 1914, Pastor, nach einem Strafprozess in Moskau erschossen.
5. Albert Thumm (1887–1916/17), stud. Medizin von 1909 bis 1914, soll an der türkischen Front gefallen sein.
6. Gustav Birth (1887–1937), stud. Theologie von 1912 bis 1917, Pastor, erschossen in einem Straflager in Karelien.
7. Johannes Grasmück (1883–1938), stud. Theologie von Jahren 1904 bis 1911. Pastor, erschossen nach einem Strafprozess in Saratow.
8. Eduard Eichhorn (1882– nach 1933), stud. Theologie von 1911 bis 1915. Pastor, 1933 verhaftet und verbannt. Weiteres Schicksal unbekannt.
2. Reihe, auf den Stühlen sitzend, v.l.n.r:
9. Johannes Khan Pira (geb. 1882 – ?), entstammte nicht dem einstigen „Kolonistenstand“, geb. in Tiflis. Vater: Adliger, persischer Untertan, ev.-luth. Glaubens, Mutter: ebenfalls ev.-luth., Deutsche. Johannes Kh. Pira studierte von 1905 bis 1914 Medizin, mit Unterbrechungen. Weiteres Schicksal unbekannt.
10. Heinrich Khan Pira (1885 – ?), Bruder von Johannes, gehörte ebenfalls nicht zu deutschen Siedlern, studierte Agrarwissenschaften von 1907 bis 1914 mit Unterbrechungen. Weiteres Schicksal unbekannt.
11. Otto Mauch (1889–1958), stud. Medizin von 1908 bis 1913.
12. Edgar Rickmann (geb. 1889 – ges. ?), entstammte nicht dem typischen Siedler- Milieu, geb. in Livland, stud. Medizin von 1910 bis 1918. Weiteres Schicksal unbekannt.
13. Alexander Wacker (1890 – 1963), stud. Medizin von 1909 bis 1915, nach 1945 im Gebiet Orenburg als Arzt tätig.
14. Carl (Charles) Streck (1886 – nach 1944), stud. Mathematik von 1907 bis 1916 mit Unterbrechungen. Lehrer, 1941 in die Region Krasnojarsk verbannt und 1944 zu 10 Jahren Lagerhaft verurteilt.
15. Alfred Schneider (1885 – 1964), stud. Theologie von 1905 bis 1906 in Greifswald und von 1908 bis 1911 in Dorpat, 1918 Flucht nach Deutschland und hier als Pastor tätig.
16. Gustav Torinus (1889 – 1980), entstammte nicht dem Siedler-Milieu, geb. in Podolien, studierte Chemie von 1908 bis 1914.
1. Reihe, an die Sitzenden angelehnt, v.l.n.r.:
17. Wilhelm Hurr (1887–1937), studierte Medizin von 1908 bis 1914. Arzt, wurde nach einem Strafprozess in Baku erschossen.
18. Immanuel Koch (1887–1942), studierte Medizin von 1908 bis 1913. Arzt, Professor in Odessa, erschossen in einem Straflager im Gebiet Magadan.