Eine Landkarte aus dem Jahr 1938 als Instrument der nationalsozialistischen Ideologie
Dokument des Monats Februar
Im Rahmen der Rubrik „Dokument des Monats“ möchten wir eine vielsagende Landkarte aus dem Jahr 1938 präsentieren. Diese zeigt laut Überschrift „den deutschen Bevölkerungs- und Kulturanteil in den Staaten Europas“ an. Was allerdings unter „Kulturanteil“ wirklich gemeint ist, geht aus der grafischen Darstellung leider nicht klar hervor. Hier liegt die Vermutung nahe, dass die Begriffe „Deutsch“ und „Kultur“ als gleichbedeutend eingestuft werden.
Deutschsprachige Minderheiten in europäischen Ländern, 1938 © Bundesarchiv
Die Bevölkerungszahlen und Siedlungsgebiete sind ziemlich genau angegeben. Allerdings handelt es sich hierbei faktisch lediglich um die Anzahl von Deutschsprachigen in den jeweiligen Staaten, denn 1938 verstand sich die Bevölkerung in der Schweiz, Elsass-Lothringen mehrheitlich oder auch teilweise in Österreich nicht als Deutsche, sondern als eigenständige Nationalitäten bzw. Nationen. Die Karte wurde nach dem Anschluss Österreichs an Deutschland veröffentlicht, die österreichische Bevölkerung wurde aus diesem Grunde administrativ de facto zu den Reichsdeutschen gezählt.
Den akribisch nachgezeichneten „deutschen Kulturinseln“ in mehreren europäischen Staaten stand die völlige Ignoranz der damals im nationalsozialistischen „Großdeutschland“ lebenden Minderheiten gegenüber, wie z. B. die Sorben in der Lausitz, die Friesen an der Nordseeküste, die Polen in Nieder- und Oberschlesien oder auch die Slowenen in Kärnten. Der von Adolf Hitler stammende Leitsatz oben links auf der Karte ließ den Betrachter mit Sicherheit aufhorchen:
„Es ist auf die Dauer für eine Weltmacht von Selbstbewusstsein unerträglich, an ihrer Seite Volksgenossen zu wissen, denen aus ihrer Sympathie oder ihrer Verbundenheit mit dem Gesamtvolk, seinem Schicksal und seiner Weltauffassung fortgesetzt schweres Leid zugefügt wird.“
Auch wenn deutsche bzw. deutschsprachige Minderheiten in einer Reihe von europäischen Staaten (vor allem in Ost- und Südeuropa), die nach dem Ersten Weltkrieg entstanden waren, subtilen und offenen Diskriminierungen ausgesetzt waren, rechtfertigte es keineswegs solche Drohgebärden. Sie schadeten nur den deutschen Minderheiten in den jeweiligen Staaten erheblich, denn gerade derartige Aussagen lieferten den Machthabern im Osten den Grund, die Vertreter von deutschen Minderheiten pauschal als illoyale Bürger und sogar als Staatsfeinde abzustempeln.
Letztendlich benutzte das NS-Regime das „schwere Leid“ der deutschen Minderheiten zur Rechtfertigung, um solche Länder wie Tschechoslowakei und Polen politisch unter Druck zu setzen und folglich militärisch anzugreifen. Die Instrumentalisierung der tatsächlichen oder vermeintlichen Benachteiligungen von Minderheiten war indes keine Ausnahme in Europa. Auch Josef Stalin nutzte u.a. die unbefriedigende Lage der weißrussischen und ukrainischen Bevölkerung in Polen als Vorwand – in erster Linie in Bezug auf die Pflege der nationalen Kultur bzw. Verwendung der Muttersprache –, um im September 1939 einen „Befreiungsfeldzug der Roten Armee“ gegen das Nachbarsland anzuordnen.
Die sowjetische Staatsführung brachte damals für ihre expansionistische oder revisionistische Ziele auch klassenspezifische Slogans ins Spiel, wie z. B. „die Befreiung der unterdrückten Werktätigen vom kapitalistischen Joch“ im Fall der Okkupation der baltischen Staaten oder beim Sowjetisch-Finnischen Krieg 1939/40.
Die heutige Staatsführung im Kreml bedient sich einer ähnlichen Rhetorik (und in Folge davon leider auch Handlungen), für die die „Sorge um die russischsprachige Bevölkerung im nahen Ausland“ (d. h. im postsowjetischen Raum) als Vorwand zum aggressiven Einmischen in die inneren Angelegenheiten von souveränen Staaten dient. Diese Rhetorik sowie die Staatshandlungen werden leider nicht nur in zahlreichen Publikationen mit reißerischen Titeln wie etwa „Ehemalige Sowjetrepubliken mit russophober Politik und Unterdrückung von Russen“ sichtbar (die obendrein mit linguistischen Landkarten garniert werden), sondern werden explizit in die offizielle staatliche Außendoktrin integriert, der die Idee einer „Russischen Welt“ zugrunde liegt.
Es bleibt abzuwarten, ob die Akteure sowie Befürworter solch einer Außenpolitik ein ähnliches Schicksal erleiden werden wie ihre nationalsozialistischen oder sowjetischen Vorgänger.