Rechtschreibreform in der wolgadeutschen Republik

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Im Deutschen Reich und in anderen deutschsprachigen Ländern hatte es eine lange Tradition und aktive Vorstöße gegeben, die zur Reform der deutschen Rechtschreibung, vor allem im 19. Jahrhundert, führten. Die Idee der Vereinfachung der deutschen Sprache blieb auch im 20. Jahrhundert präsent und mündete zuletzt in der allbekannten und bis  heute umstrittenen Reform der deutschen Rechtschreibung von 1996.

Ähnliche Bestrebungen und Versuche hatte es ebenfalls in der UdSSR in den deutschen Siedlungsgebieten in der Zwischenkriegszeit, etwa in der Ukrainischen Sowjetrepublik gegeben, doch vielmehr noch in der autonomen Republik der Wolgadeutschen. Auf den ersten Blick mag es überraschend erscheinen, weil in der wolgadeutschen Republik weniger als ein Prozent der weltweiten deutschsprachigen Bevölkerung lebte. Andererseits darf man den welthistorischen Anspruch der marxistisch-leninistischen Ideologie nicht unterschätzen: Man verstand sich quasi als erster und einziger deutscher sozialistischer Staat der Welt, der sich den Weg zur höchsten Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung bahnte, nämlich zum Kommunismus. Daher sahen sich die Partei- und Staatsspitze der autonomen Republik befugt, jegliche Frage und jegliches Problem der Welt anzugehen und Lösungen zu präsentieren.

Als Anlass diente die allgemeine Feststellung, dass „unsere deutschen Schulen in Bezug auf die Erfolge der Rechtschreibung weit hinter den russischen zurückbleiben“, weil „in der russischen Sprache die Rechtschreibung bedeutend vereinfacht, während in der deutschen die alte deutsche Rechtschreibung, die bekanntlich noch hinter der alten russischen zurücksteht, beibehalten wird.“ (Zur Reform der russ. Sprache von 1918 siehe den ausführlichen Bericht hier …)

Immerhin sollte diese Reform nicht gänzlich „losgerissen“ von anderen deutschsprachigen Gebieten der UdSSR und vor allem „nicht losgerissen von den Bestrebungen zur Reform […] in den deutschen Ländern“ verwirklicht werden.

Als Hauptbegründung für die Reformvorhaben führte man vor allem an, dass den Kindern durch die Reform „bedeutend mehr Zeit für die Aneignung der Güter der Kultur“ bleiben würde. Das hob sich zunächst positiv von anderen derartigen Absichten in der UdSSR ab, bei denen eher ideologische Vorstellungen, wie z. B. die Schaffung einer „proletarischen deutschen Sprache“, im Vordergrund standen.

Nach der Veröffentlichung dieser Regierungserklärung entfachte sich in der Zeitung „Nachrichten“ eine lebhafte Diskussion, aus der wir zwei Beiträge ausgewählt haben und Ihnen vorstellen möchten: der eine ist von Paul Kufeld (1897 – ?, nach 1941), einem marxistisch gesinnten Literaten und Redaktionsmitarbeiter der „Nachrichten“; der zweite stammt von Bernhard Bartels (1890-1937), einem überzeugten Bolschewiken, Journalisten und Pädagogen, der in Uelzen, unweit von Hamburg, geboren wurde, ab 1914 in Russland lebte und von 1926 bis 1932 in der wolgadeutschen Republik als Verlagsmitarbeiter und Hochschuldozent wirkte.

Zu welchen konkreten Ergebnissen diese Diskussion führte und welche weiteren Reaktionen daraufhin folgten, geht aus den uns zur Verfügung stehenden Zeitungsausgaben leider nicht hervor. Soweit ersichtlich, hat dieser und andere Vorstöße zur Vereinfachung der deutschen Rechtschreibung in der Sowjetunion zu keiner verbindlichen Neuregelung geführt.

Beitrag „Zur guten Stunde!“ von B. Bartels, aus: „Nachrichten“, vom 26. September 1928: