Ein Protestschreiben: gegen die Abschaffung der deutschsprachigen Studiengänge in der Ukraine (1936)

Dokument des Monats

Das „Dokument des Monats“ April aus dem Jahr 1936 ist ein sichtbarer Ausdruck der Veränderungen in der innen- und außenpolitischen Konstellation der UdSSR der 1930er-Jahre. Minderheiten aus dem „Westen“ – wie Polen, Deutsche, Finnen, Ingermanländer, Esten, Letten und andere Diasporagruppen – wurden zunehmend offen oder unterschwellig mit Vorwürfen und Verdächtigungen konfrontiert, sie betrieben Schädlings- und Spionagetätigkeiten. Sie galten als eines der Hauptziele des „Großen Terrors“ in den Jahren 1937/1938. Parallel zur physischen Liquidierung der vermeintlichen „fünften Kolonne“ wurden Maßnahmen zur systematischen Auflösung kultureller und bildungsrelevanter Institutionen dieser nationalen Gruppen sowie ihrer territorialen Verwaltungseinheiten (nationale Landkreise und Dorfräte) eingeleitet. So musste bereits 1934 die deutschsprachige antireligiöse Wochenschrift „Das Neuland“ ihr Erscheinen einstellen. Im April 1935 erschien das letzte Heft der monatlichen Literaturzeitschrift „Der Sturmschritt“, im September 1937 fiel auch die Republikzeitung „Das neue Dorf“ (ab Juni 1936 umbenannt in „Die Wahrheit“) diesem Schicksal zum Opfer.

Beschwerdebrief von Studierenden aus Odessa über die Abschaffung der deutschsprachigen Studiengänge (Ausschnitt) @ Russländisches Staatsarchiv GARF.

Am 5. November 1936 richteten die Studenten B. Huth und W. Zunk von der Medizinischen Hochschule in Odessa – weitere Details über sie sind unbekannt – eine Beschwerde an die damals höchste staatliche Instanz, das Zentralvollzugskomitee (ZVK) der UdSSR in Moskau, zu Händen seines Vorsitzenden Michail Kalinin. Aus dem Brief geht hervor, dass im Jahr 1933 an der Hochschule ein deutscher „Sektor“ (Fakultät) gegründet wurde. Dies ermöglichte vielen Arbeiter- und Bauernkindern, die nicht gut genug Russisch oder Ukrainisch beherrschten, eine medizinische Ausbildung in deutscher Muttersprache zu erwerben. Betroffen waren etwa 130 Studierende aus verschiedenen Gegenden der Sowjetunion.

Übrigens war das Recht auf Bildung in der jeweiligen Muttersprache in allen sowjetischen Verfassungen festgeschrieben bzw. vom Staat formalrechtlich garantiert – zuletzt auch in der Verfassung von 1977. Ohne jegliche Begründung wurden jedoch nur drei Jahre später zunächst die an die Hochschule angegliederte Arbeiterfakultät sowie der deutschsprachige Studiengang gestrichen. Den Betroffenen wurde unmissverständlich nahegelegt, sich entweder für russisch- oder ukrainischsprachige Studiengänge anzumelden oder an die deutschsprachige Abteilung der medizinischen Hochschule in Saratow zu wenden. Diese undurchsichtige Vorgehensweise genügte den jungen Menschen keineswegs; sie baten daher um Prüfung dieser Angelegenheit.

Die Reaktionen auf diesen Vorgang zeigen interessanterweise, dass damals noch nicht alle Teile des Staatsapparats auf eine einheitliche Linie gegen die nationalen Minderheiten eingeschwenkt waren. Die Beschwerde wurde ins Russische übersetzt und offenbar in entsprechenden Gremien diskutiert. Bereits am 17. November ging ein Schreiben vom Sekretariat des Nationalitätenrates des ZVK an die Adresse des Ukrainischen Volkskommissariats für Aufklärung (Kiew) sowie des Gebietsvollzugskomitees in Odessa mit der Bitte ein, „die Motive für die Liquidierung der deutschsprachigen Fakultät“ zu schildern und „die Möglichkeit einer Vorbereitung medizinischer Kader aus den deutschen Werktätigen“ zu prüfen.

Bezeichnend ist dabei, dass beide Adressaten auf das Schreiben aus Moskau überhaupt nicht reagierten: Eine Erinnerung vom 14. April 1937 führte lediglich dazu, dass erst am 3. Oktober 1937 – fast ein Jahr später nach dem Schreiben aus Moskau – eine knappe Antwort aus Odessa kam: „Die deutschsprachige Fakultät wurde durch Entscheidung des Volkskommissariats für Aufklärung der Ukraine aufgelöst. Aus welchem Grund das geschah, ist uns unbekannt.“

Die Antwort aus Odessa ( 3. Oktober, 1937).

Die Behörde in Kiew ignorierte also diese Angelegenheit vollständig.

Der Vorgang verdeutlicht noch einmal, welche Machtbefugnisse die sowjetischen Behörden im Vergleich zur kommunistischen Partei beziehungsweise zur Regierung mitsamt den Volkskommissariaten tatsächlich hatten. Bald wurde diese Entwicklung jedoch obsolet: Am 10. April 1938 beschloss das Politbüro des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Ukraine in einer geheimen Anordnung, alle Bildungseinrichtungen für nationale Minderheiten in ukrainisch- oder russischsprachige Institutionen umzuwandeln. Die Begründung ließ aufhorchen:

Die Feinde des Volkes – Trotzkisten, Bucharinisten [Anhänger des in Ungnade gefallenen einstigen Ideologen der Partei, Nikolai Bucharin] und bürgerliche Nationalisten, die in der Ukrainischen SSR tätig waren, haben nationale deutsche, polnische, tschechische, schwedische, griechische und andere Schulen oktroyiert und sie zu Zentren des bürgerlich-nationalistischen, antisowjetischen Einflusses auf die Kinder gemacht. Die Praxis, nationale Schulen einzurichten, hat unserem Bildungs- und Erziehungssystem einen enormen Schaden zugefügt, die Kinder vom sowjetischen Leben isoliert, sie an der weiteren Bildung an technischen Schulen und Hochschulen gehindert sowie der Möglichkeit beraubt, ein vollwertiger Teil der sowjetischen Kultur und Wissenschaft zu sein.

Quelle: Nimci v Ukraini. 20-30-mi rr. XX st.: sb. dok. der. archiviv Ukraini – Kijiv 1994, S. 210.

Das Ende des muttersprachlichen Unterrichts auf allen Ausbildungsebenen war somit besiegelt.

Im Folgenden können Sie den vollständigen Beschwerdebrief der deutschsprachigen Studierenden aus Odessa (Jahr 1936) lesen und herunterladen (Quelle: Russländisches Staatsarchiv GARF):