Geschichte eines sowjetischen Traktors und seiner deutsch-mennonitischen Erfinder

Dokument des Monats

Auf der unten vorgestellten Zeichnung sehen Sie ein einfaches, beinahe primitives Gefährt, den Traktor der Marke Saporoschez. Dieser ging in die Geschichte als erster sowjetischer Traktor ein, der serienmäßig produziert wurde. Die Anfertigung begann 1923 und lief bis 1927; insgesamt wurden davon 500 Stück (nach anderen Angaben 800 bis 900) hergestellt. Seine Entwickler, Ingenieure Leonhard Unger (1884-1937) und Gerhard Rempel (1885-1937), stammten aus der mennonitischen Siedlung namens Kitschkas (Einlage).

Der erste sowjetische Traktor „Saporoschez“, Zeichnung aus der Zeitschrift „Technika Molodeschi“ (etwa: Technik der jungen Generation), 1975

Geschichtlicher Rückblick

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bildete die Schwarzmeerregion das Zentrum des russischen landwirtschaftlichen Maschinenbaues. Die Landmaschinenindustrie im Russischen Reich erzeugte im Jahr 1911 Waren im Wert von 50.317.000 Rubel, davon fielen auf das Schwarzmeergebiet 27.210.000 Rubel, rund 54 Prozent des Gesamtwertes. Von den in der Statistik aufgeführten 164 südrussischen Fabriken befanden sich 66 in der Hand deutscher Siedler; der Jahresumsatz dieser Werke betrug 12.780.000 Rubel, d. h.  47 Prozent des Gesamtumsatzes in dieser wichtigsten Region. Man denke nur an die größte Pflugfabrik im Russischen Reich, die Johannes-Höhn-Pflugfabrik in Odessa, an die Landmaschinenfabriken Lepp & Wallmann in Chortitza oder an die Aktiengesellschaft „Handelshaus Ja. Koop – Werke für Landmaschinen und -inventar“ in Einlage (Kitschkas) – beide Ortschaften sind heute Teil der Stadt Saporoschje.

Werbung eines der Werke von
Unger in Einlage (Kitschkas)
© https://chortitza.org

Diese wirtschaftliche Entwicklung brachte eine breite Schicht der deutschen und mennonitischen Ingenieure und technischer Fachleute hervor, die aus der Mitte der einstigen Kolonisten stammten und an höheren russischen sowie ausländischen, vor allem reichsdeutschen, Ingenieur- bzw. Gewerbeschulen bzw.  Polytechnika unterschiedlicher Fachrichtungen studierten. Schon vor dem Ersten Weltkrieg, vor allem aber zu Beginn der 1920er-Jahre war der Bedarf an einem robusten, kostengünstigen und einfach zu bedienenden Traktor sehr groß. Er sollte den damaligen Zuständen der russischen bzw. sowjetischen Landwirtschaft und den Bedürfnissen des individuellen Bauernwirtschaftens Rechnung tragen. Für diese Aufgabe waren die obengenannten „Kolonistensöhne“ geradezu prädestiniert: Leonhard Unger hatte die Ingenieurschule in Mannheim absolviert und Gerhard Rempel die Königliche Gewerbeschule in Chemnitz. Bereits während der Zarenzeit hatten sie reichlich Erfahrung in der Konstruktion und Anfertigung von verschiedenen landwirtschaftlichen Maschinen und Geräten in Kitschkas Fabriken gesammelt, u. a. in der Motorenfabrik A. A. Unger, die dem Vater von Leonhard Unger gehörte. 

Nach der russischen Revolution und dem Bürgerkrieg arbeiteten die beiden weiter in den nun verstaatlichten Betrieben in Aleksandrowsk (ab 1921 Saporoschje). Die beiden tüftelten an der Konstruktion eines für die Bauern erschwinglichen Traktors, wobei Unger dabei federführend war. Unter seiner Leitung wurde der Prototyp des Traktors Saporoschez hergestellt und am 10. März 1921 der Öffentlichkeit präsentiert. Die Konstruktion war im Grunde relativ einfach; der Dreirad-Traktor konnte in jeder Dorfschmiede repariert werden, hatte nur einen Gang, max. Geschwindigkeit 3,6 km/h, und wurde angetrieben von einem Zweitakt-Einzylinder-Motor mit nur 12 PS Leistung. Als Kraftstoff wurde das weit verbreitete Rohöl verwendet.

Der TraktorSaporoschez“ © https://chortitza.org

1923 wurde die Maschine auf der Allunions-Ausstellung in Moskau vorgestellt. Im Vergleich zu ähnlichen US-Marken wie Fordson oder Holt, hatte Saporoschez einen geringeren Spritverbrauch beim Pflügen von je 1 ha Agrarland. Das Modell ging im staatseigenen Betrieb „Krasny progress“ (Roter Fortschritt) in Tokmak in Serienproduktion und wurde dort bis 1927 gefertigt. Der Ingenieur Leonhard Unger folgte seinem „Kind“ nach Tokmak und arbeitete vor Ort an der technischen Optimierung. Parallel entwickelte er ein neues, wesentlich besseres Modell, den Traktor Semledelez (deutsch: Landmann). Doch es folgte die Zeit der Kollektivierung, der gewaltsamen Zusammenlegung von privaten Bauernwirtschaften zu Großbetrieben (Kolchosen) mit größeren Aussaatflächen. Ein kompakter Traktor, der von einem einzelnen Bauer bedient werden konnte, hatte deshalb ausgedient.

Doch nicht nur beim Traktorenbau, sondern auch in anderen industriellen Bereichen leisteten die von deutschen Siedlern abstammenden Fachleute Pionierarbeit. So erhielten im September 1931 Peter Dyck (1884‒1937), Chefingenieur des Werks Kommunarde in Saporoschje, sein Stellvertreter Gerhard Hamm (1883‒1937) und der Ingenieur Kornelius Pauls (ca.1868‒1937), den Leninorden für die Entwicklung sowie erfolgreiche Massenproduktion des allerersten sowjetischen Getreidemähdreschers.

Mähdrescher „Kommunard“ im Einsatz, Ukraine, 1930er-Jahre. Ein Traktor zog ihn durch das Feld, das gedroschene Getreide wurde sogleich in Säcke gefüllt und mit Fuhren abtransportiert © Wikimedia Commons

Das Leben aller hier erwähnten Ingenieure endete leider sehr tragisch: sie wurden im Terrorjahr 1937 aufgrund von fadenscheinigen Beschuldigungen erschossen, später aber post mortem rehabilitiert.

Noch einige Worte zum Lebensweg von Leonhard Unger: Ab 1927 arbeitete er am Bau (sowie beteiligte sich fortan am Betrieb) von Dneprostroi, Europas größtem Wasserkraftwerks in der Nähe der Stadt Saporoschje, und zwar als Sektionsleiter der Zuliefererbetriebe (podsobnye predprijatija) in der kontroll-technischen Planungsabteilung. Nebenbei unterrichtete er als Dozent an der Hochschule für landwirtschaftlichen Maschinenbau in Saporoschje. Am 22. Dezember 1933 wurde er verhaftet und nach einigen Wochen zermürbender Verhöre am 28. Februar 1934 gemeinsam mit anderen Vertretern der „technischen Intelligenz“ aufgrund von vermeintlicher „Leitung der konterrevolutionären deutschen subversiven Organisation“ und anderer absurder Beschuldigungen zu fünf Jahren Straflager verurteilt. Die Haftzeit verbrachte Unger im BAM-Lag, Stadt Swobodny, im fernen Osten.

Im Lager leitete Unger eine Zeitlang das Zentralbüro für Rationalisierungen und Erfindungen (sic!) und reichte währenddessen einige technische Verbesserungen für den dortigen Baubetrieb ein. Doch seine Bitte, ihn auf Bewährung zu entlassen, lehnte die Lagerleitung ab. Stattdessen wurde er im BAM-Lag aufs Neue angeklagt und am 15. Oktober 1937 vom Drei-Mann-Ausschuss (Troika) des NKWD, der für die Fernöstliche Region zuständig war, zum Tode durch Erschießen verurteilt. Das Urteil wurde wenige Tage später, am 27. Oktober, vollstreckt. Erst am 15. August 1989 wurde Leonhard Unger von der Staatsanwaltschaft des Gebiets Saporoschje mangels Beweisen rehabilitiert.

Das Urteil der „Troika“, GPU der Ukraine vom 28. Februar 1934, © Staatsarchiv des Gebiets Saporoschje