Was davor geschah und danach: der 28. August 1941

Die geheimen Entscheidungen (Dokument des Monats)

Wichtige Erkenntnisse zur Vorgeschichte der Massendeportationen der sowjetdeutschen Bevölkerung fehlen uns leider immer noch, weil der Zugang zu den entsprechenden Archiven des Politbüros oder der Staatssicherheit (NKWD bzw. KGB) nach wie vor praktisch versperrt ist. Der Deportationserlass vom 28. August 1941 fiel, bildhaft gesagt, nicht vom Himmel herab.

Nach dem Angriff Hitler-Deutschlands auf die Sowjetunion nahm die Angst vor feindlichen Spionen und Fallschirmjägern geradezu hysterische Züge an, wodurch jeder deutschsprachige Sowjetbürger schnell unter den Verdacht geraten konnte, ein Gestapo- oder Abwehragent zu sein. Es folgten zahlreiche Verhaftungen von Emigranten und deutschen Sowjetbürgern in den ersten Wochen und Monaten des Krieges. Allein in den drei ukrainischen Gebieten Saporoschje, Stalino und Woroschilowgrad nahm der NKWD insgesamt 7.091 Deutsche fest.

Seite 1 des Beschlusses vom 26.08.1941

Die militärische Führung versuchte ihrerseits, ähnlich wie im Ersten Weltkrieg, ihr Versagen unter anderem durch die „verräterischen“ Aktivitäten der „einheimischen Deutschen“ in den frontnahen Gebieten zu erklären. Sie wurden pauschal als illoyale Bürger denunziert, ihre Ausweisung wurde gefordert. So begann etwa bereits am 15. August 1941, auf Betreiben des Rats für Evakuierungsangelegenheiten und des Kriegsrats der Südfront, die Zwangsaussiedlung von 53.000 Krim-Deutschen. Die Aktion wurde verschleiernd als „Evakuierung“ bezeichnet. Und am 24. August wurde Joseph Stalin von den Politbüro-Mitgliedern Andrei Schdanow, Wjatscheslaw Molotow und Georgi Malenkow über ihr Vorhaben informiert, 88.700 Finnen und 6.700 Deutsche aus dem Leningrader Gebiet auszuweisen.

Es war somit nur konsequent, dass auch andere Gruppen der Sowjetdeutschen an die Reihe kommen sollten, die sich damals noch im tiefen Hinterland befanden. Und am 26. August 1941 war es soweit: Das faktische Machtzentrum des sowjetischen Staates, das Politbüro des ZK der KP(B)SU mit Stalin an der Spitze, verabschiedete den Beschluss „Über die Umsiedlung der Deutschen aus der Republik der Wolgadeutschen, der Gebiete Saratow und Stalingrad“.

Der Beschluss wurde beschönigend als wichtige Entscheidung der Regierung (Rat der Volkskommissare) und des Zentralkomitees der Partei ausgegeben. Am selben Tag wurde ein weiterer Beschluss „Über die Umsiedlung der Deutschen, die in den Wolgarayons wohnen“ vom Politbüro angenommen, der dem Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR vorgelegt wurde. Zwei Tage später legitimierte dieses verfassungsmäßig höchste Organ der Staatsgewalt – auf Russisch hieß es: оформить в советском порядке – diese Vorlage, die folglich als „Erlass vom 28. August 1941“ in die Geschichte einging.

Wenn man diese beiden Texte genau vergleicht – die eine Fassung, die nur für den engsten Kreis der gleichgesinnten im höchsten Machtgremium, mit dem Vermerk „streng geheim“, bestimmt war und die zweite Fassung, die für einen breiteren Kreis der Partei- und Sowjetfunktionäre sowie für die ausländische Öffentlichkeit vorgesehen war[1] – dann stechen dem Lesenden gravierende Unterschiede ins Auge. Zum einen fehlen in dem internen Politbürobeschluss, der nur für den engen Kreis der höchsten Entscheidungsträger bestimmt war, jegliche Schuldzuweisungen. Die aus insgesamt 19 Artikeln bestehende Direktive – ausdrücklich sachlich verfasst – vermittelt den Eindruck einer Anweisung zur planmäßigen Übersiedlung. Ganz eindeutig und selbstverständlich war eine halbwegs angemessene Entschädigung für das „zurückgelassene“ Hab und Gut vorgesehen, die die Sowjetdeutschen an ihren neuen Bestimmungsorten erhalten sollten. Doch leider kam es anders: die Verbannten erhielten später praktisch keinerlei Kompensationen und fielen oft dem quälenden Hungertod und grassierenden Krankheiten zum Opfer.

Im offiziellen Erlass hingegen wurden schwerwiegende Kollaborationsvorwürfe gegen die wolgadeutsche Bevölkerung erhoben. Nach den heute zur Verfügung stehenden Dokumenten gab es keine dazu erforderliche Sitzung des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR, und letztendlich bestand die ganze Legitimation des Beschlusses allein in den Unterschriften des macht- und willenlosen sowjetischen Staatsoberhaupts, Michail Kalinin und des Sekretärs des Präsidiums, Alexander Gorkin.

Nach dem gleichen Muster erfolgte die Verabschiedung eines weiteren Erlasses vom 7. September 1941, der nach einer nur ein Tag zuvor verfassten Politbüro-Vorlage die Aufteilung des Territoriums der wolgadeutschen Republik zwischen den Gebieten Saratow und Stalingrad anordnete.

Die Vorgehensweise gegen die deutschen Diasporagruppen aus dem übrigen europäischen Teil der Sowjetunion benötigte schon keinen solchen Legitimationsschein, der im Fall der Auflösung einer autonomen Republik oder eines Gebiets noch „erlassen“ werden musste. In den darauffolgenden Wochen und Monaten wurden die noch verbliebenen Sowjetdeutschen aufgrund geheimer Beschlüsse des Staatlichen Verteidigungskomitees (GKO) sowie aufgrund von Befehlen des NKWD und der Kriegsräte einzelner Frontabschnitte verbannt. In einigen Fällen kam die Anordnung über die Ausweisung der Deutschen vom Rat der Volkskommissare der UdSSR oder der jeweiligen Unionsrepublik.


[1] Der offizielle „Erlass vom 28. August“ wurde zunächst auf Russisch und Deutsch nur in der wolgadeutschen Republik öffentlich gemacht; sonst wurde dieser jahrzehntelang verschwiegen und erst während der Perestroika-Zeit ab Ende der 1980er-Jahre in den sowjetischen Medien, in überregionalen und wissenschaftlichen Publikationen erwähnt und nachgedruckt.