Ein aufschlussreiches Dokument über deutsche Sondersiedler aus dem Jahr 1956

Dokument des Monats

Als „Dokument des Monats“ möchten wir Ihnen eine behördliche Auskunft über die deutschen Sondersiedler aus einer der administrativ-territorialen Einheiten im Gebiet Swerdlowsk vorstellen. Welche Schlussfolgerungen und Erkenntnisse lassen sich aus diesem seltenen Dokument aus dem Jahr 1956 gewinnen?

(Quelle: Dokumentationszentrum der gesellschaftlichen Organisationen des Gebiets Swerdlowsk, Stadt Jekaterinburg).

1) Diese Bescheinigung enthält einige Auslassungen und falsche Behauptungen, etwa dass die Ausweisungen der deutschen Minderheit nur aus der Wolgarepublik sowie den Städten Moskau und Leningrad stattfanden. Es ist indessen allgemein bekannt, dass es auch Deportationen aus dem Transkaukasus, der östlichen Ukraine und dem Nordkaukasus gegeben hat – kurzum, aus Dutzenden von Regionen und Städten im europäischen Teil des Sowjetstaates. Die Behauptung, dass neben den Männern auch „arbeitsfähige alleinstehende Frauen“ zur Arbeit mobilisiert wurden, ist schlichtweg falsch. Nachweislich wurden unter anderem kinderreiche Mütter, Jungen ab 15 Jahren und Mädchen ab 16 Jahren – also noch Kinder – für die Dauer des Krieges in diverse Zwangsarbeitslager gebracht. Immerhin sind die Verfasser des Dokuments insofern „ehrlich“, als sie offen zugeben, dass deutsche Sowjetbürger dem „Lagerregime unterstellt“ und bewacht wurden; konkret bedeutet dies, dass man sie als Kriminelle behandelte.

2) Im Text taucht der Terminus „Trudarmija“ (Arbeitsarmee) bzw. „Trudarmist“ auf. Entgegen der weitverbreiteten Meinung vieler Zeitgenossen und Historiker ist dieser Begriff nicht volkstümlicher Natur und wurde nicht von den Betroffenen selbst erfunden, um ihr Häftlingsdasein aufzuwerten. Er wurde ab Kriegsbeginn vor allem von politischen Abteilungen der einzelnen Lager gezielt verwendet – bei alltäglicher Agitation und Propaganda, in Lagerzeitungen und anderswo. Der tatsächliche Status der sowjetdeutschen Zwangsarbeiter, der mit dem Status eines Lagerhäftlings durchaus vergleichbar war, wurde durch diese Bezeichnung – in Anlehnung an militärische Ausdrücke wie „Armee“ oder „Rotarmist“ – euphemistisch dargestellt und somit kaschiert.

3) Die Verteilung auf das Gebiet weist eindeutig auf die Existenz ehemaliger Lager hin, in denen deutsche Zwangsarbeiter im Einsatz waren: Besonders hervorzuheben ist der Kreis (Rayon) Krasnoturjinsk, in dem eines der größten Arbeitslager, das Bogoslowlag (nach außen fungierte es als BAS-Stroi: Baustelle des Aluminiumwerks Bogoslow), lag; im Rayon Nischni-Tagilski befand sich das nicht weniger berüchtigte Tagillag, welches offiziell harmlos als Tagilstroi firmierte (etwa Tagil-Baustelle) und für die Errichtung des Metallurgie- und Kokschemiewerkes in der Stadt Tagil zuständig war. Die Deutschen mussten sich noch lange nach dem Krieg mit unqualifizierten, körperlich schweren und gesundheitsschädigenden Berufen begnügen. In der Gebietsmetropole Swerdlowsk etwa, mit vielen Bildungseinrichtungen und qualifizierten Berufsangeboten, durfte nur ein Bruchteil (1,3 %) von ihnen leben.

4) Dieses behördliche Dokument unterstreicht erneut die Tatsache, dass seit Ende der 1940er-Jahre eine Verschärfung des Sondersiedlungsregimes eintrat – als Folge der wachsenden außenpolitischen Konfrontation der UdSSR mit der westlichen Welt. Dies fand seinen Ausdruck unter anderem im Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 26. November 1948, welcher die bereits während des Zweiten Weltkrieges vollzogene Verbannung mehrerer Völker „auf ewig“ festschrieb und die Rückkehr in ihre früheren Siedlungsorte ausdrücklich verbot. Flüchtigen Sondersiedlern drohten nun zwanzig Jahre Freiheitsentzug; ihren Helfern fünf Jahre. Daraufhin wurden die Sonderkommandanturen verpflichtet, die Kontrolle über die Sondersiedler zu verschärfen. Zu jedem Sondersiedler ab einem Alter von 16 Jahren wurde eine persönliche Akte angelegt – ähnlich wie bei Verbrechern und Häftlingen –, mit Fotos sowie einer Beschreibung äußerer Merkmale; auch Fingerabdrücke wurden erfasst. Diese Personen waren verpflichtet, sich jeden Monat persönlich beim Kommandanten zu melden und ihre Anwesenheit mit einer Unterschrift zu bestätigen. Aus diesem Grund existieren in den Unterlagen ausführliche Angaben erst ab Beginn des Jahres 1949 – d.h., nachdem die gesamte Registrierungsaktion durchgeführt worden war.

5) Schließlich eine letzte Bemerkung: Die weit verbreitete Auffassung, dass der sogenannte Dezember-Erlass von 1955 ein Ergebnis des Besuchs von Bundeskanzler Konrad Adenauer im September desselben Jahres gewesen sei, blendet wichtige innenpolitische Entwicklungen in der Sowjetunion nahezu gänzlich aus. Die stufenweise Abschaffung administrativer Einschränkungen war in erster Linie eine Folge der – wenn auch durchaus widersprüchlichen – von Chruschtschow eingeleiteten Entstalinisierung; es war insofern nur eine Frage der Zeit, wann die deutsche Minderheit neben anderen verfolgten Bevölkerungsgruppen an die Reihe kommen würde. Die uns vorliegende Auskunft bestätigt erneut in überzeugender Weise diese Feststellung: Schon ab März 1954 kam es zu ersten Befreiungen aus den Sondersiedlungen; es folgten mehrere weitere Schritte bis schließlich im Dezember 1955 die abschließende Regelung getroffen wurde. Der Adenauer-Besuch spielte hingegen vornehmlich eine Rolle bei der Befreiung der letzten deutschen Kriegsgefangenen sowie bei den Erleichterungen für Ausreisewillige; diesen gab die zwischenstaatliche Vereinbarung bezüglich Familienzusammenführung eine (wenn auch meist sehr trügerische) Hoffnung auf das Verlassen ihrer „Sowjetheimat“.

Nachfolgend können Sie das ganze Dokument im Original herunterladen; unmittelbar darunter finden Sie die deutsche Übersetzung.

(Quelle: Dokumentationszentrum der gesellschaftlichen Organisationen des Gebiets Swerdlowsk, Stadt Jekaterinburg).

Hier folgt die deutsche Übersetzung als PDF zum Herunterlanden: