Die Lage der Ev.-Luth. Kirche in der UdSSR im Jahre 1934
Dokument des Monats
Zu Beginn der 1930er-Jahre war die Lage der organisierten Evangelisch-Lutherischen Kirche und ihrer Diener in der UdSSR äußerst prekär. Die Kirche wurde im Zuge der sozialistischen Umgestaltung systematisch unterdrückt, ihrer Besitzungen komplett beraubt, ihre Organisationen und Aktivitäten wurden verboten und sie an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Die Sowjetmacht konfiszierte die Wohnungen der Pfarrer und überführte sie als einstige Stützen des Altregimes in die Kategorie „stimmlose“. Das bedeutete u. a. den Ausschluss von sozialen Leistungen wie Kranken- oder Rentenversicherung, und ihre Kinder durften nicht studieren. Ihre im Allgemeinen geringeren Gehälter unterlagen einer erhöhten Besteuerung. Für jedes auch noch so geringfügige Vergehen drohten ihnen hohe administrative Strafen oder gar Verhaftungen. Offene Verunglimpfungen und Beleidigungen waren an der Tagesordnung. Das war buchstäblich ein täglicher Kampf ums nackte Überleben, der die meisten Geistlichen in der UdSSR zermürbte.
Dokumentausschnitt: Unterstützung des Gustav-Adolf-Vereins für die Schwesterkirche in der UdSSR, 1934 (Das gesamte Dokument lesen Sie weiter unten …)
Daher resultierten die ständigen Bitten und Eingaben, nach Deutschland ausreisen zu dürfen oder wenigstens die deutsche Staatsangehörigkeit zu erlangen – in der trügerischen Hoffnung, dass dies vor Verhaftungen, Verurteilungen oder Verbannung schützen würde. Viele Pastoren hegten den Wunsch, wenigstens ihre Kinder ins Ausland zu schicken, damit sie dort eine gedeihliche christliche Erziehung erhielten. Ohne finanzielle Unterstützung aus dem Ausland, vor allem aus Deutschland, war diese protestantische Kirche nicht überlebensfähig.
Aus dem vorliegenden Dokument des Gustav-Adolf-Werks geht hervor, dass im Frühling 1934 in der Sowjetunion (damals oft schlicht als „Russland“ bezeichnet) nur noch 44 evangelische Pastoren wirkten, davon nur 17 (von mehr als 100), die ihr Amt bereits 1917 ausgeübt hatten. 34 Pastoren befanden sich zu dieser Zeit entweder in Verbannung oder in politischer Haft. Auch für 16 emeritierte und kranke Gottesdiener wollte der Verein sorgen, ebenso für zehn weitere, die im Ausland lebten, aber dort keine ausreichenden Dienstpflichtjahre nachweisen konnten, um rechtmäßige Pensionszahlungen zu erhalten. Schließlich mussten auch für das evangelisch-lutherische Predigerseminar, das von 1925 bis 1934 in Leningrad (heute wieder St. Petersburg) bestand, Gelder aus dem Ausland akquiriert werden. Nach der Zusammenstellung dieser Bedarfskalkulation vergingen nicht einmal drei Jahre, und die organisierte Ev.-Lutherische Kirche der UdSSR hörte auf – nach der Verhaftung des letzten Pastors sowie darauffolgender Kirchenschließung im Jahre 1937 – zu existieren.
BILD: Unterstützung des Gustav-Adolf-Vereins für die Schwesterkirche in der UdSSR, 1934 @ Evangelisches Zentralarchiv, Berlin. (Anm. der Red.: Zum Vergrößern klicken Sie bitte die Datei direkt an!)