Erste russlanddeutsche Akademiker im Zarenreich (Folgen 24, 25 und 26)
Die Seibs, eine Pastorenfamilie
Im Rahmen unserer wissenschaftlichen Forschungsreihe „Erste russlanddeutsche Akademiker“ möchten wir einen bemerkenswerten Familienverband vorstellen. Der Küsterlehrer Valentin Seib aus Elisabethdorf im Kreis Mariupol übte seine schulischen sowie kirchlichen Aufgaben in verschiedenen Ortschaften im Schwarzmeergebiet aus. Unter seinem Einfluss entschieden sich drei seiner Söhne für den Pastorenberuf und studierten in Dorpat Theologie: Eduard (1872 – ?; nach 1936), Otto (1884–1953) und Woldemar (1889 – ?; nach 1935). Es war für die damalige Zeit höchst außergewöhnlich, dass aus einer bäuerlichen Kolonistenfamilie gleich drei Akademiker hervorgingen.
Ihr Berufsweg zeichnete sich durch eine aktive seelsorgerliche Tätigkeit sowie durch besondere Tragik aus, bedingt durch die antireligiöse Politik der bolschewistischen Partei. Eduard und Woldemar mussten die ganze Willkür der stalinistischen Gewaltherrschaft erleben und ihr Leben im Straflager bzw. in ihren Deportationsorten lassen. Die genauen Umstände ihres Todes sind bis heute unbekannt.
Auch Otto Seib wurde nach der bolschewistischen Machtergreifung 1917 schikaniert. Wie durch ein Wunder erlaubte ihm die kommunistische Regierung etliche Jahre später, nach Deutschland auszureisen. Es war eine der letzten Ausreisegenehmigungen, die der Sowjetstaat einem Pastor erteilte. Er verließ die UdSSR 1931 und konnte dadurch dem tragischen Schicksal seiner Brüder entkommen.
Das Wirken von Eduard Seib ist besonders aufschlussreich. Mehr als 25 Jahre lang predigte er in verschiedenen Gemeinden der Deutschen an der Wolga, konnte deshalb die Belange und Nöte der örtlichen Bevölkerung gut nachvollziehen und sich mit ihnen identifizieren. Sein Buch, das 1907 im Selbstverlag erschienen war, hatte deshalb einen persönlichen und praktischen Titel: „Was sollen wir Wolgadeutschen tun? Kurzer Ratgeber für Auswanderer und Landwirte“.
Schon früh genug verspürte Pastor Seib die Feindseligkeiten der örtlichen Behörden und der „Gottlosenbewegung“. Sein selbstloser Einsatz in der Stunde der großen Hungersnot Anfang der 1920er-Jahre weckte den Unmut der sowjetischen Machthaber. Man kontrollierte seine Korrespondenz und denunzierte ihn öffentlich als Feind der Sowjetunion, z. B. in der Glosse „Ein Heiliger“, die im Zentralblatt des Wolgadeutschen Gebiets „Nachrichten“ am 16. August 1922 erschien.
Interessant wäre noch anzumerken, dass in dem als Beweis seiner antisowjetischen Gesinnung abgedruckten Brief nicht wesentlich mehr von den als „sowjetkritisch“ einzustufenden Inhalten zu finden ist, als es die offiziellen Sowjetbehörden ohnehin öffentlich zugaben.
Es war aber sicher ein großer Unterschied, ob es die bolschewistische Seite war, die anhand von bestimmten Informationsinhalten sozusagen Selbstkritik übte und gleichzeitig an der Zukunftsvision einer klassenlosen, atheistischen und kommunistischen Gesellschaft festhielt, oder die Kritik aus der Feder eines verhassten „Popen“, „Kultdieners“ u. ä. stammte und dabei noch für das Ausland bestimmt wurde. In solchen Fällen war man gnadenlos.
Der abgefangene Brief des Pastors Seib vom 8. Februar 1922, in dem das ganze Elend der hungernden Menschen geschildert wird. Teil 1, Teil 2, Teil 3.
P.S.: Bei dem im Zeitungsbeitrag erwähnten „Prinzipal Schmidt“ (d. h. Dienstherr Schmidt), an den der Brief adressiert war, handelte es sich wohl um den einstigen, damals bekannten Großindustriellen und aktiven Teilnehmer der Nationalbewegung der Wolgadeutschen Friedrich Schmidt (1870–1930), der 1918 nach Deutschland geflüchtet war und von hier aus seine notleidenden Landsleute an der Wolga tatkräftig unterstützte. Weitere Details siehe unter: