Ein Brief aus Saratow (1922)
Beim Dokument des Monats „Mai“ geht es um den Briefwechsel zwischen zwei wolgadeutschen Intellektuellen, konkret um einen Brief aus dem Jahr 1922, dessen Inhalt wichtige Tendenzen des politischen, gesellschaftlichen und national-kulturellen Lebens der Wolgadeutschen widerspiegelt. Doch zunächst zu den Protagonisten: Der Verfasser des unten vorgestellten Briefes ist Georg Dinges (1891–1932). Sein Profil auf Russisch mit zahlreichen Fotografien finden Sie HIER.
Dinges war Philologe, Heimatforscher, Museologe und Ethnograph, einer der ersten Hochschullehrer aus der Mitte der Siedler-Kolonisten, ab 1923 Professor an der Universität Saratow. Er wurde 1891 im Dorf Blumenfeld, Gouvernement Samara, geboren. Nach der Absolvierung der Grimmer Zentralschule und des Ersten Saratower Knabengymnasiums studierte er von 1912 bis 1917 an der historisch-philologischen Fakultät der Moskauer Universität. Zusätzlich zur Professur leitete er ab 1926 das Zentrale Museum der deutschen autonomen Wolgarepublik in Pokrowsk (seit 1931 Engels) und hatte noch weitere Ämter inne. Außerdem nahm er an der Gründung und ferner am Lehrbetrieb der dortigen Deutschen Pädagogischen Hochschule aktiv teil.
Dinges wissenschaftlicher Schwerpunkt war die Mundartenerforschung. Seine erste Publikation 1923 finden Sie diesbezüglich HIER. Zudem arbeitete er mehrere Jahre an der Erstellung des wolgadeutschen Sprachatlasses.
Seine im Archiv der Stadt Engels erhalten gebliebenen dialektologischen Erhebungslisten sind HIER öffentlich zugänglich.
Sein Briefadressat Jakob Eichhorn (1890–1986), der zu dieser Zeit schon in Berlin lebte, hatte einen nicht minder bewegten Lebenslauf, den Sie HIER finden. Er studierte in Dorpat sowie Berlin Theologie und wanderte 1924 in die USA aus, wo er bis 1958 als Pfarrer wirkte. Jakob Eichhorn war eine gesellschaftlich aktive Persönlichkeit und ab November 1920 Schriftleiter des Vereins der Wolgadeutschen in Berlin. Der Verein organisierte während der Hungerkatastrophe der 20er-Jahre Hilfsgüter in das wolgadeutsche Gebiet und die deutschen städtischen Gemeinden, sodass wir annehmen können, dass sich die beiden Männer aus dieser Zeit gut gekannt hatten.
Nachstehend stellen wir Ihnen den Brief von Dinges an Eichhorn aus dem Jahr 1922 im Original sowie das entsprechende Transkript als Download zur Verfügung:
Voller Stolz berichtet Georg Dinges in seinem Brief, wie es ihm noch während der schrecklichen Hungersnot 1921/22 gemeinsam mit seinen Mitstreitern gelang, eine germanistische (deutsche) Abteilung an der Saratower Universität aufzubauen. Bei seinen Mitstreitern handelte es sich in erster Linie um den einstigen Gymnasiallehrer August Lonsinger (1881-1953), der sich bereits vor 1914 mit dialektalen Studien in den wolgadeutschen Dörfern beschäftigt hatte, und um Peter Sinner (1879– ?, nach 1935), einen erfahrenen Germanisten und begnadeten Pädagogen, Literaten, Journalisten und Heimatforscher.
Anfang der 1920er-Jahre waren Kontakte ins Ausland und freie Meinungsäußerung noch nicht gänzlich verboten. Einige Jahre später änderte sich die sowjetische Innenpolitik radikal. Im Januar 1930 wurde Prof. Dinges verhaftet und der Spionage zugunsten Deutschlands – hier wurden ihm die zahlreichen Kontakte nach Deutschland zum Verhängnis – und der antisowjetischen nationalistischen Tätigkeit beschuldigt und im Februar 1932 (!), nach mehr als zwei Jahren im Gefängnis, zusammen mit Peter Sinner und Prof. Anatoli Synopalow (1885-?), in einem politisch motivierten Prozess zu drei Jahren Verbannung verurteilt. Kurz darauf starb er in Sibirien. 1964 wurde er gerichtlich rehabilitiert. Einen Artikel dazu finden Sie HIER.