Ein Flugblatt aus dem Jahr 1990

Der Aufruf gegen die Wiederherstellung der Autonomen Sowjetischen Sozialistischen Republik der Wolgadeutschen (ASSRdWD)

Dokument des Monats

Ablichtung des Originals

Vor mehr als 30 Jahren wurde der letzte nennenswerte Versuch unternommen, die rechtswidrig aufgelöste wolgadeutsche autonome Republik wiederherzustellen. Die Geschichte dieses Scheiterns ist höchst lehrreich und hat an der Aktualität bis heute nicht eingebüßt. Die unveränderten Denk- und Handlungsweisen der föderalen und lokalen Machthaber in Russland blieben bis heute beinahe unverändert.

Als „Dokument des Monats“ möchten wir Ihnen ein typisches Flugblatt aus dieser Zeit vorstellen – ein lokal organisierter Aufruf „gegen die gewaltsame Wiederherstellung der autonomen Republik der Wolgadeutschen“. Als Urheber des Flugblatts zeichnet ein sogenanntes „Koordinationskomitee der Einwohner“ aus drei Kreisen des Gebiets Saratow, die bis 1941 administrativ der wolgadeutschen Republik angehörten: Marx (ehem. Kanton Marxstadt), Krasnoarmejsk (Balzer) und Sowjetsk (Mariental). Es muss zu Beginn des Jahres 1990 gedruckt worden sein, und zwar in der staatlich betriebenen Druckerei in Marx.

Zur Vorgeschichte: Die demokratische Aufbruchstimmung der Perestroika-Jahre führte u. a. dazu, dass die Nationalitätenkammer des im März 1989 frei gewählten Obersten Sowjets der UdSSR am 12. Juni 1989 eine „Kommission zur Lösung von Problemen der Sowjetdeutschen“ einberief, und zwar unter dem Vorsitz des zweiten Sekretärs des ZK der Kommunistischen Partei Kirgisiens, Gennadi Kisseljow.

Einige Monate später, am 28. November 1989, stimmte der Oberste Sowjet in einer Sitzung dem Vorschlag dieser Deputiertenkommission zu, die Wiederherstellung der wolgadeutschen Autonomie in ihren alten Grenzen einzuleiten.

Schon nach den ersten öffentlichen Verlautbarungen zu diesem Thema Ende 1988 und vor allem nach den bekannt gewordenen Schlussfolgerungen der erwähnten parlamentarischen Kommission regte sich ein starker Widerstand vor Ort. Als Initiator und Organisator dieser Protestwelle, die sich durch zahlreiche Petitionen an zentrale Machtorgane, Resolutionen von Betriebsversammlungen, Streikdrohungen und massenhafte Kundgebungen äußerte, trat in erster Linie die lokale Nomenklatura auf, die sich vor Macht- und Einflussverlust fürchtete.

Das Aufbegehren gegen die deutsche Minderheit, das im populären Reim „Rot ne rasewai na Saratowski karawai“ (d. h. in etwa: Reiß den Mund nicht auf, lang´ nicht nach dem Saratower Brotlaib) gipfelte, hat in dieser Gegend eine lange Tradition. Bereits 1918 hatte sich der regionale Partei- und Sowjetapparat vehement gegen die Ausgliederung der wolgadeutschen Siedlungen in ein autonomes Gebiet aufgelehnt.

Damals hatte das entschlossene Vorgehen der Zentralregierung in Moskau geholfen, den Widerstand der lokalen Machthaber zu entkräften. So eine deutliche Unterstützung, nicht zuletzt auch finanzieller Natur, fehlte dieses Mal völlig.

Zurück zum Flugblatt: Anstatt mit rechtlichen Kategorien und schlüssigen Argumenten zu überzeugen, wird hier ein verzerrtes Bild der Vergangenheit höchst emotional präsentiert und mit dem der Perestroika-Jahre verglichen. Darüber hinaus werden absurde Vorwürfe und Vorschläge gemacht. Die Autoren malen den Popanz einer „Heimatberaubung“ an die Wand, obwohl auf dem Territorium der ehemaligen wolgadeutschen Republik, das ca. 28.000 km² groß war, Ende der 1980er-Jahre etwas mehr als 600.000 Menschen lebten. Und diese sollten nun den deutschen Ansiedlern „weichen“ oder sogar Angst haben, wegen ihnen der Heimat beraubt und verbannt zu werden?

Wie absurd diese angstschürenden Argumente waren, kann man an zwei Beispielen zeigen. In Republik Krim lebten im Jahr 1989 auf der vergleichbar großen Fläche (26.081 km²) um die 2,4 Mio. Menschen, d. h. in etwa das Vierfache im Vergleich zur Wolgaregion. Und das kleine Belgien mit einer Fläche von nur 30.528 km² beherbergte damals 9.937.690 Einwohner, heute sind es bereits 11.584.000 …

Die Rückkehr der Sowjetdeutschen bzw. die Wiederherstellung ihrer autonomen Republik wurde als großes Unglück, als Gefahr für Leib und Seele der örtlichen, vornehmlich russischen Bevölkerung dargestellt. Von dem zweihundert Jahre andauernden Leben und Wirken der Wolgadeutschen in der betroffenen Region, von den von ihnen in dieser Zeitspanne geschaffenen materiellen und geistigen Gütern, von ihrer Deportation und den gewaltsamen Enteignungen im Jahr 1941, von der Wiedergutmachung und der sich einmalig bietenden Chance, die voranschreitende sprachliche und kulturelle Degradation der Sowjetdeutschen zu stoppen, wollten die Initiatoren dieses Schreibens aus dem Gebiet Saratow offenbar nichts wissen. Stattdessen entwarfen sie ein Szenario der bevorstehenden Heimatberaubung und Entrechtung der lokalen Bevölkerung.

Nach dieser seltsam anmutenden Logik der Verfasser waren viele Menschen – vor allem die russische Bevölkerung, um die es hauptsächlich ging – in mehr als zwanzig, damals in Russland bereits bestehenden oder wiederhergestellten, autonomen Republiken und Gebieten (etwa in Kalmückien, Burjatien, Tschuwaschien oder Komi) ebenfalls völlig entrechtet und ihrer Heimat beraubt. Auch hätte man aus diesem Dokument schlussfolgern können, dass die erwähnten nationalen Autonomiegebilde schleunigst aufgelöst werden müssen, um die „Überhöhung einer Bevölkerungsgruppe gegenüber allen anderen zu stoppen.“

Mit dem vorliegenden Flugblatt bekommt man bereits eine Vorahnung der unheilvollen politischen und gesellschaftlichen Entwicklung in Russland, die letztendlich in dem vernichtenden Krieg gegen die Ukraine mündete.

Die deutsche Fassung des Flugblatts