Eine historische Blaupause vor 83 Jahren: Wie Stalin Finnland unterwerfen wollte (Teil 2)
Im zweiten Teil unserer Dokumentation durchleuchten wir weitere interessante Einzelheiten des sowjetisch-finnischen Krieges (Winterkrieg) 1939/40: Wie wurde dieser Krieg in den offiziellen Massenmedien anhand der zeitgenössischen Berichte dargestellt und welche Parallelitäten weist er zu dem heutigen Vorgehen Russlands gegen die Ukraine auf? [1] Als Quelle dienen uns (wie bereits in den Dokumentationen zuvor) die offiziellen Verlautbarungen der Zeitungen „Prawda“, „Iswestija“ u. a., die übersetzt in der deutschsprachigen Zeitung „Nachrichten“ aus der Wolgadeutschen Republik erschienen.
Bekanntlich forderte die Stalinregierung nach dem Abschluss des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts[2] beinahe ultimativ von Finnland, die besonderen Sicherheitswünsche der UdSSR zu berücksichtigen wie beispielsweise: Abtretung des Südteils der befestigten Karelischen Landenge, um die „bedrohliche“ Grenzlage von Leningrad zu entschärfen.[3] Die künftige Grenze zwischen Finnland und der Sowjetunion wäre demzufolge etwa 30 Kilometer östlich der zweitgrößten finnischen Stadt Wiborg verlaufen und das kleinere Land dadurch – mit dem Verlust der Befestigungslinien – dem großen Nachbar schutzlos ausgeliefert. Die Verhandlungen darüber dauerten bis einschließlich zum 13. November, blieben jedoch erfolglos, da die finnische Seite mit ihren Kompromissvorschlägen keine Zustimmung erhielt.
Die Sowjetführung begann umgehend mit militärischen Vorbereitungen.[4] In der Erklärung vom 29. November 1939[5] sprach der sowjetische Außenminister Wjatscheslaw Molotow ziemlich nebulös über „feindliche Politik der gegenwärtigen Regierung Finnlands, die uns zwingt, sofort Maßnahmen zur Garantierung der äußeren staatlichen Sicherheit zu ergreifen“. Er sparte nicht mit Verweisen auf „ausländische Imperialisten“ und „jetzige finnische Regenten“, welche „die Feindseligkeit gegen die Sowjetunion schüren“, erwähnte „Provokationen der finnischen Soldateska“ etc., um schließlich zu behaupten:
Die uns gegenüber feindlich gesinnte ausländische Presse behauptet, die von uns ergriffene Maßnahmen [alias: Sonderoperation] verfolgen das Ziel der Annexion oder der Angliederung von finnischem Territorium an die UdSSR. Das ist eine boshafte Verleumdung. Das einzige Ziel unserer Maßnahmen ist die Garantierung der Sicherheit der Sowjetunion und besonders Leningrads […]. Wir können die Lösung dieser lebenswichtigen und unaufschiebbaren Aufgabe […] nicht von dem bösen Willen der gegenwärtigen finnischen Regenten abhängig machen […]. Diese Aufgabe muss durch die Anstrengungen der Sowjetunion selbst im freundschaftlichen Zusammenwirken mit dem finnischen Volk gelöst werden.
Bestimmt wären auch Verweise auf die „faschistischen“ Umtriebe nicht ausgeblieben, gäbe es nicht eine gerade beschlossene politische und militärische Freundschaft mit dem erst später verhassten NS-Deutschland…
Früh morgens am 30. November griff die Sowjetunion ohne Kriegserklärung das Nachbarland an: „Angesichts der neuen bewaffneten Provokationen durch die finnische Soldateska überschritten die Truppen des Leningrader Militärbezirks […] die finnische Grenze auf der Karelischen Landenge und in einer Reihe anderer Rayons.“
Das ganze Vorgehen hieß nun offiziell „Marsch“, „Maßnahmen“ oder „Operation“. Daher ist das aktuelle Leugnen des Krieges gegen die Ukraine aus dem Munde des obersten Kreml-Diplomaten Lawrow keine neue Erfindung der russischen Propaganda. Auf die Vorwürfe des Generalsekretärs des Völkerbundes,[6] Joseph Avenol, antwortete sein Vorgänger Molotow am 4. Dezember ohne schlechtes Gewissen:
Die Sowjetunion befindet sich mit Finnland nicht in einem Kriegszustand und bedroht nicht das finnische Volk durch einen Krieg […]. Die Sowjetunion befindet sich in friedlichen Beziehungen mit der Demokratischen Republik Finnland, mit deren Regierung sie am 2. Dezember d. J. einen Vertrag über gegenseitige Hilfe und Freundschaft abschloss. Durch diesen Vertrag wurden alle Fragen geregelt […].
Hier ist noch eine weitere Übereinstimmung des aktuellen russischen Vorgehens in der Ukraine mit den Ereignissen vor mehr als 80 Jahren erkennbar: Man erfand eine durch und durch prosowjetische „Demokratische Republik Finnland“ (DRF), mit der man „Verhandlungen“ führt und deren Vorschläge man wohlwollend befolgt, „der DRF durch ihre [der UdSSR] Streitkräfte Beistand zu leisten, um durch gemeinsame Anstrengungen den überaus gefährlichen Kriegsherd, der in Finnland von dessen früheren Regenten geschaffen wurde, möglichst rasch zu liquidieren“, so Molotow weiter in seiner Antwort vom 4. Dezember.
Diese fadenscheinige Erklärung hatte die Weltöffentlichkeit allerdings wenig überzeugt. So wurde die Sowjetunion am 14. Dezember aus dem Völkerbund ausgeschlossen. Die sowjetische Nachrichtenagentur TASS[7] kommentierte diesen Entschluss als den „Völkerbund im Dienste des englisch-französischen Kriegsblocks“ (die USA spielten in der damaligen propagandistischen Offensive Moskaus im Gegensatz zu heute noch keine herausragende Rolle).
Eine weitere Mittelung der TASS nannte den Ausschluss „töricht“; die herrschenden Kreise Englands und Frankreichs „lehnten unlängst die Friedensvorschläge Deutschlands“ ab und daher haben sie „das moralische und formelle Recht verloren […] von einer ‚Aggression‘ seitens der UdSSR“ zu sprechen.
Und überhaupt – so die üblichen gebetsmühlenartigen Kreml-Beteuerungen – handelt es sich dabei keinesfalls um einen Krieg mit Finnland, sondern um den Vertragsbruch der Mannerheim-Clique, die dem Land „unter dem Diktat dritter Mächte gegen den wahren Willen des finnischen Volkes den Krieg gegen die UdSSR“ aufzwang.
Zurück zu den ersten Kriegstagen und -wochen: Die Sowjetpropaganda legte großen Wert auf klassenkämpferische und internationalistisch klingende Parolen. Man wollte die einfachen Werktätigen von den Weißgardisten,[8] von den sog. Weißfinnen befreien – weil diese ja bekanntlich nur Interessen der ausbeuterischen Schichten verfolgten, genauso wie im russischen Bürgerkrieg 1918–1921. Da erfuhren die Sowjetbürger über den Brief „ehemaliger Erwerbloser aus der Westukraine, die zu der Zeit in der Kohleindustrie des Donezbeckens arbeiten“, wie sehr sie sich über die bereits stattgefundene Befreiung vom Joch der polnischen Grundbesitzern freuen. Gleichzeitig begrüßen diese „die Kommunistische Partei Finnlands, die sich an der Spitze der Arbeiter, Bauern und der werktätigen Intelligenz Finnlands im Kampfe für Frieden, Freiheit und für die Unabhängigkeit der Finnischen Republik gestellt hat“.
Die Medien erläuterten weitere Einzelheiten zum Pakt über gegenseitige Hilfe und Freundschaft zwischen der UdSSR und der DRF, schilderten erste „Schritte“ der Roten Armee und schimpften über die „plutokratische Macht“ in Finnland.
Nicht unerwähnt blieb die „entscheidende Rolle [der USA] bei der Errichtung des reaktionären Regimes in Finnland“ nach der Erlangung der staatlichen Unabhängigkeit 1917.
In den ersten Tagen nach der Invasion kamen aus dem Nachbarland ausschließlich optimistische Meldungen, etwa über allgemeine Versammlungen der Einwohner der eingenommenen finnischen Stadt Terijoki, dass sie sehr erfreut seien, „mit Hilfe der Roten Armee von der Unterdrückung durch die plutokratische Bande der Kajander [eigentlich: Cajander, Ministerpräsident], Tanner [Finanzminister] und Mannerheim [Oberbefehlshaber der finnischen Armee] befreit“ zu werden.
Man erfährt von den Ortsbewohner einiger Inseln, denen es gelungen sei, „den weißen finnischen Gendarmen entkommen zu sein“, dass sie sich nun endlich sattessen können. Die gefangengenommenen Soldaten wurden in „Erstaunen gesetzt durch die menschliche Fürsorge und Wärme […] seitens gerade jener ‚Moskalen‘ […] von deren ‚Bestialitäten‘ ihnen die finnischen Offiziere so viel und boshaft erzählt hatten“.
Gleichzeitig erschienen Beiträge mit Schilderungen aus befreiten Dörfern, in denen die Ortsbauern von den „weißen Finnen“ aufgrund Evakuierungsverweigerung erschossen wurden.
Flüchtlinge, die sich nach Nordnorwegen durchgeschlagen haben, seien „entrüstet über die Handlungen der Helsinki-Regierung“.
Mit Verweisen auf als seriös geltende ausländische Quellen kamen Meldungen über den „weißen Terror im Mannerheimischer Finnland“.
Obwohl die Dreiwochenrevue den Eindruck eines unaufhaltsamen Vordringens bis auf 130 km ins Innere des Landes vermittelte, erschienen Nachrichten über den militärischen Verlauf dieser „Operation“ immer spärlicher und einsilbiger:
„Am 21. Dezember bestand die Kampftätigkeit unserer Truppen hauptsächlich in Aufklärungen durch die Kundschafter […]“
oder: „Am 3. Januar [1940] hat sich an der Front nichts wesentliches ereignet.“
Der Vorstoß kam praktisch zum Stillstand. Das war hauptsächlich Ergebnis des erbitterten Widerstandes des finnischen Volkes und seines Heeres, die den sowjetischen Truppen hohe menschliche und materielle Verluste besorgten.[9]
Solch eine unerwartete Situation versuchten die Kremlpropagandisten mit schaurigen Geschichten über die „Barbarei“ der finnischen Armee und des Staatsapparats zu kaschieren. Diese „Banditen zwingen unter Drohung der Erschießung die finnischen Bewohner, ihre heimatliche Scholle zu verlassen; sie setzen Frauen, Kinder und Greise unaussprechlichen Leiden aus“.
In Nordfinnland, ohne einen konkreten Ort und Zeitpunkt zu nennen, sollen „Massenerschießungen von Arbeitern“ stattgefunden haben und revolutionsgesinnte Personen seien von den „weißen“ finnischen Behörden „harten Repressalien“ ausgesetzt.
Dies war jedoch noch nicht das Ende des Krieges. Es folgten massive Verstärkungen der sowjetischen Truppen und eine zweite Offensive im Januar 1940. Stalin setzte sich letztendlich durch.[10] Sein größtes Ziel, eine kommunistische prosowjetische Regierung im Nachbarsland zu installieren und Finnen in den „Bruderbund der Sowjetvölker“ mit einer Unionsrepublik – ähnlich wie die baltischen Staaten – aufzunehmen, hat er jedoch nicht erreicht.
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