Eine historische Blaupause vor 83 Jahren: Wie Stalin Finnland unterwerfen wollte

Dieses Dokument bzw. (in diesem Fall) diese Dokumentation des Monats ist außergewöhnlich. Es wird illustriert, dass die gerade stattfindenden gravierenden Ereignisse in der Ukraine keineswegs im luftfreien Raum entstanden und nur kaum aus aktuellen Entwicklungen oder Verlautbarungen der handelnden Personen zu erklären sind. Solche Großgeschehen – wie der anhaltende russische Angriff auf die Ukraine – können ohne historisches Hintergrundwissen kaum angemessen verstanden werden.

Von welchen Vorbildern lässt sich z. B. das Handeln des russischen Präsidenten ableiten? Er selbst sieht sich in der Tradition des heroischen Kampfes gegen Faschismus (heute: Nazismus). Demnach will er die Ukraine „denazifizieren“ und „entmilitarisieren“. In vielen westlichen Publikationen werden andersherum Parallelitäten zu dem Angriff des Deutschen Reichs am 1. September 1939 gezogen und das Agieren des russischen Staatsoberhaupts mit dem des damaligen Reichskanzlers verglichen.

Wer sich jedoch in der sowjetischen Geschichte auskennt, kommt unweigerlich zu dem Schluss, dass eher Stalin und seine Politik Wladimir Putin als Vorbild und nachahmenswertes Beispiel dienen. Sein Vorgehen erinnert einerseits an die Befreiungsrethorik, mit der die UdSSR im September 1939 Polen überfallen hat und andererseits an die Einverleibung der baltischen Staaten.

Ausschnitt aus der Zeitung „Nachrichten“ über den Einfall in Polen 1939.

Darüber hinaus ist der sog. „Winterkrieg“ (30.11.1939 – 13.3.1940) zwischen Russland und Finnland am ehesten mit dem heutigen Vorgehen Russlands vergleichbar. Wir bringen hierzu einige zeitgenössische sowjetische Berichte und Regierungserklärungen, die 1939 in der Zeitung „Nachrichten“ (Engels), dem zentralen Presseorgan der Wolgadeutschen Republik, übersetzt veröffentlicht wurden. Sie zeigen uns frappierend viele Gemeinsamkeiten bis hin zu wortwörtlichen Übereinstimmungen.

Lange vor dem Angriff und bis zuletzt verurteilte die Regierung der UdSSR scharf die in Finnland angeblich „Wütende antisowjetische Kampagne“, „freche Provokationen finnischer Soldateska“, welche die sowjetischen Grenzgebiete unter Beschuss nahmen. In den Massenmedien wurde der finnische Premierminister als Possenreißer verunglimpft.

In einer scharfen Protestnote verurteilte der Außenminister (Volkskommissar) Wjatscheslaw Molotow am 26. November 1939 den Artilleriebeschuss sowjetischer Grenztruppen beim karelischen Dorf Mainila und verlangte von der finnischen Seite, ihre Militärtrupps von der Grenze zurückzuziehen.

Diesen selbst inszenierten Vorfall benutzte die UdSSR, um einige Tage später Finnland den Krieg zu erklären. In seiner Radioansprache vom 29. November 1939 führte Mlotow eine lange Liste von „Provokation“ als Folge der „feindlichen Politik der herrschenden Kreise Finnlands“ gegen die friedfertige Sowjetunion auf, die sich infolgedessen gezwungen sah, „sofortige Maßnahmen zum Schutz der äußeren staatlichen Sicherheit zu ergreifen“. Solch eine Aufgabe wird „im freundschaftlichen Zusammenwirken mit dem finnischen Volk zu lösen“ sein. Für den Kreml war klar, wer schuld ist: „Die finnischen Possenreißer sind verantwortlich.“

Wie diese Lösung aussieht, erfuhren die Sowjetbürger unmittelbar danach: Schon am 1. Dezember 1939 folgte die Bildung einer „Volksregierung Finnlands“ unter der Leitung eines zuverlässigen Komintern-Kaders nämlich Otto Kuussinen. In einer Deklaration rief diese angeblich in der finnischen Stadt Terioki gebildete Volksregierung „das ganze Volk Finnlands zum entschiedenen Kampf für den Sturz der Tyrannei der Henker und Provokateure des Krieges“ auf. Am darauffolgenden Tag (2. Dezember 1939) schloss diese fiktive Regierung im Namen einer ebenso fiktiven „Demokratischen Republik Finnland“ einen „Pakt über gegenseitige Hilfe und Freundschaft  zwischen der Sowjetunion und der Demokratischen Republik Finnland“ mit der Sowjetunion ab.

Die Zeitungen oder Radiosendungen waren daraufhin voller Berichte wie „Das ganze Land unterstützt das finnische Volk in seinem Kampf für die demokratische Republik“ oder „Die finnischen Soldaten begrüßen die Volksrepublik Finnlands“ und dergleichen.

Anders als bei der Einverleibung der polnischen Territorien oder des Baltikums stoß das Vorrücken sowjetischer Truppen auf einen erbitterten Widerstand der finnischen Streitkräfte sowie des gesamten finnischen Volkes. Es kam zu monatelangen verlustreichen Kriegshandlungen. Das Ergebnis des Angriffs: Finnland verlor 11 Prozent ihres Territoriums, musste sich neutral erklären und rückte für Jahrzehnte in eine politisch-militärische Abhängigkeit von der UdSSR. Der Begriff „Finnlandisierung“ wurde publik.

Im Vergleich etwa zu den baltischen Staaten behielt das Land immerhin seine staatliche, wenn auch stark eingeschränkte, Unabhängigkeit.