„Friesennot“ und „Film der Wahrheit“
Die Bibliothek des Bayerischen Kulturzentrums der Deutschen aus Russland beherbergt einen schmalen Band aus der Inselbücherei mit der Erzählung von Werner Kortwich: Friesennot, 1938,Taschenbuchformat, vergrößerte Schrift, 78 Seiten. Die erste Ausgabe erschien 1933 mit einer Auflage von 10.000 Exemplaren. Es folgten weitere Ausgaben, sodass bis 1938 insgesamt mindestens 75.000 Einzelstücke gedruckt wurden.
Worum geht es in diesem Werk? Es geht um das im Dritten Reich geradezu obsessiv verfolgte Thema des „Auslandsdeutschtums“, genauer gesagt um das Schicksal der Deutschen in der bolschewistischen Sowjetunion. Es wird am Beispiel eines friesisch-mennonitischen Dorfes irgendwo „inmitten der dichtesten Wälder und Sümpfe westlich der Wolga“ (sic!) dargelegt.
Der Inhalt der Erzählung bildet eine krude Mischung aus erfundenen Lebensumständen und propagandistischen Klischees über die Leiden der „Friesen“ unter dem bolschewistischen Regime, die mit einigen überzeichneten, aber im Kern doch realen Gegebenheiten vermengt werden. Einen Eindruck der künstlerischen und historischen Qualität der Erzählung gewinnt man bereits anhand einer Leseprobe:
Diese zutiefst primitive und weitgehend unrealistische Schilderung der „friesischen“ Bauern in der UdSSR – keine deutschsprachige Gruppe in der UdSSR hat sich im Übrigen als „Friesen“ betitelt – wäre eigentlich nicht der Rede wert, stünde sie nicht am Anfang einer heftigen ideologischen Auseinandersetzung zwischen dem Deutschen Reich und der UdSSR, die auch heute noch großes Interesse weckt. Die Erzählung diente als Vorlage für ein Propagandamachwerk, den gleichnamigen Film „Friesennot“ (Drehbuch: Werner Kortwich, Regie: Peter Hagen alias Willi Krause), der am 19. November 1935 im Ufa-Palast am Zoo in Berlin uraufgeführt wurde. Goebbels ließ dem Film umgehend das Prädikat „staatspolitisch besonders wertvoll“ zuteilen. Ausführungen zum Konzept und zur Bedeutung des Filmes für die NS-Propaganda:
Hans Schmid: Braune Volkstänzer im russischen Wald
Leider hat der Verfasser nicht überall eine klare Abgrenzung zum Ausdruck gebracht, dass der ganze Filmplot ausschließlich die Vorstellungswelt der NS-Propaganda und nicht die Wahrnehmungen und Realitäten der betreffenden deutschen Bauern in der UdSSR, um die es sich hierbei handelt, widerspiegelt.
Dieser Film rief eine heftige Reaktion der sowjetischen Seite hervor. In der Regierungszeitung „Iswestija“ erschien am 26. November 1935 der Artikel: „Ein antisowjetischer Lügenfilm.“ Zwei Tage später veröffentlichte die „Deutsche Zentralzeitung (Moskau)“ eine Übersetzung dieses Artikels:
Doch dabei blieb es nicht. Als eine ebenbürtige Antwort auf derartige Angriffe entstand die Idee eines „Filmes der Wahrheit“, der zwar propagandistisch spiegelverkehrt, aber auf einem hohen künstlerischen Niveau das glückliche Kolchosleben der Wolgadeutschen schildern sollte. Angesprochen fühlten sich in der Hinsicht die kommunistischen und antifaschistischen Emigranten künstlerischer Berufe: Schriftsteller, Schauspieler, Maler und Graphiker, Film- und Theaterregisseure…; 35 von ihnen haben einen Appell unterschrieben, der schon am 10. Dezember in der DZZ erschien:
Mit der Realisierung dieses Vorhabens wurde kein geringerer Regisseur als Erwin Piscator beauftragt, der schon früher die Wolgadeutsche autonome Republik besuchte und die ideologische Notwendigkeit eines Propagandafilmes mit der wolgadeutschen Thematik unterstrich. Nachfolgend der Aufsatz von E. Piskator „Zeigen wir die Sowjetdeutschen im Buch, im Film, auf der Bühne“ in der Republikzeitung Nachrichten (Engels) vom 25. September 1934:
Nach der Auftragserteilung zum „Film der Wahrheit“ weilten Regisseur Piscator und andere Beteiligte erneut einige Zeit in Engels, der Hauptstadt der ASSRdWD, um vor Ort den Stoff für den Film zu sammeln. Über die Ankunft der Moskauer Exilkünstler Erwin Piskator, Julius Hay und Josef Lengyel in Engels, Wolgadeutsche Republik und über ihr Vorhaben, einen Film über die deutschen Kollektivisten zu drehen, berichtete am 6. Januar 1936 die Republikszeitung Nachrichten auf der Titelseite.
Im gleichen Heft erschien der Bericht über das Treffen der eingetroffenen Exilkünstler mit den hochrangigen Regierungsvertretern der ASSR der Wolgadeutschen und den wolgadeutschen Sowjetschriftstellern G. Sawatzky und Andreas Saks:
Zum gleichen Thema ein zusätzlicher Beitrag von Erwin Piscator „Jedes Dorf schreibt seine Geschichte“, in den Nachrichten vom 10. Januar 1936.
Aus bis heute nicht ganz erklärlichen Gründen kam es nicht zur Realisierung des Projekts. Den Wirbel um „Friesennot“ sowie „Film der Wahrheit“ thematisierte ausführlich der Filmhistoriker Günter Agde:
Sonderfall reziproker Bilder. Das Projekt eines wolgadeutschen Spielfilms 1935/36 und seine historischen, politischen und kulturellen Verflechtungen, in: Stürmische Aufbrüche und enttäuschte Hoffnungen. Russen und Deutsche in der Zwischenkriegszeit. Hrsg. v. Karl Eimermacher und Astrid Volpert. München 2006, S. 443-477 (West-Östrliche Spiegelungen. Neue Folge: Wuppertal-Bochumer Projekt über Russen und Deutsche im 20. Jahrhundert. Band 2).
Am 7. September 1939 wurde „Friesennot“ wegen des gerade vorher unterzeichneten Hitler-Stalin-Packtes verboten. Im August 1941 ist der Film angesichts des deutsch-sowjetischen Kriegs wieder zugelassen worden, durfte jedoch nur unter dem neuen Titel „Dorf im roten Sturm“ gezeigt werden (unter nachfolgendem Link ist die Wiedergabe in einer nicht besonders guten Qualität möglich: https://archive.org/details/1935-Ein-Dorf-im-roten-Sturm).