Heute wie vor 100 Jahren: Eine Informationsbroschüre des „Fürsorgevereins für deutsche Rückwanderer“ (Berlin, 1917).
In unserem Archiv gibt es eine kleinformatige Broschüre mit der Überschrift „Was sollte jeder Deutsche von unseren deutschen Volksgenossen in Rußland wissen? Merkworte“, hrsg. vom Fürsorgeverein für deutsche Rückwanderer. Berlin 1917, Umfang 16 Seiten.
Der Fürsorgeverein wurde 1909 von der Preußischen Staatsregierung ins Leben gerufen, mit dem Ziel, vornehmlich deutsche Bauern aus dem Russischen Reich als Landarbeiter für die östlichen Provinzen (Ostpreußen, Posen u. a.) zu gewinnen. Oder wie es im sprachlichen Duktus der damaligen Zeit hieß: … „sich der von ihrer eigenen Regierung mißhandelten Deutschrussen hilfreich anzunehmen und ihre Eingewöhnung im alten Stammlande zu unterstützen.“
Vor dem Ersten Weltkrieg waren es nicht weniger als 30.000 Rückwanderer, die – von „dem Mutterlande gewonnen“ – größtenteils aus polnischen Gouvernements des Russischen Reiches oder aus Wolhynien stammten (vgl. Borchardt, Alfred, Deutschrussische Rückwanderung, Berlin 1915).
Die Übersiedlungen einzelner deutscher Bauern ins Deutsche Reich waren demnach bereits zu Beginn des 20. Jh. keine Seltenheit. Diese Rückwanderungswelle erfasste allerdings kaum die sogenannten „Siedler-Kolonisten“ an der Wolga oder im Schwarzmeergebiet. Wenn die Letzteren sich entschlossen hatten, das Russische Reich zu verlassen, dann ging es vorzugsweise in Richtung USA und sonstige Überseestaaten. Sie erhofften sich, dort ausreichend Land zu erwerben, eigene Siedlungen zu gründen und ihre gewohnte Lebensweise fortführen zu können.
Diese schmale Broschüre ist für uns von Interesse, weil darin fast die gleichen Probleme angesprochen werden, die bei den wesentlich umfangreicheren Zuwanderungswellen Anfang der 1970er- und vor allem ab Ende der 1980er-Jahre auftraten. Beklagt werden von den Autoren der Broschüre die mangelhaften historischen und kulturellen Kenntnisse über die deutschen Bauern im Russischen Reich (die fälschlicherweise schon damals als „Deutschrussen“ bezeichnet wurden) und die Geringschätzung ihres historisch bedingten andersartigen „Deutschseins“. Eingegangen wird auch auf die starken Enttäuschungen bei den betroffenen „Rückwanderern“, weil ihr Bild, ihre Vorstellungen von Deutschland nicht mit der Realität übereinstimmten.
Andererseits sticht beim Lesen der Broschüre die teils herablassend und paternalistisch wirkende Sicht auf die deutschen Rückwanderer ins Auge (genauso unangenehm wie in vielen Berichterstattungen der Medien von heute). Allein die Bezeichnung „Fürsorgeverein“ verrät die Einstellung der Autoren und Vereinsmitglieder, die die „fremden“ Deutschen als hilfsbedürftige und unselbständige Personen sahen, welche eine besondere Behandlung bräuchten. Die Überschrift des letzten, vierten Abschnitts (IV), mutet zudem sehr sonderbar an: „Der Verkehr mit den Deutschrussen“…
Wenn man sich manche medialen Berichte über die Deutschen aus der ehem. UdSSR von heute anschaut, dann entsteht zuweilen der Eindruck, dass sich im „deutschen Vaterlande“ auch nach mehr als hundert Jahren sehr wenig im Hinblick auf die öffentliche Wahrnehmung der „entfernten Verwandten aus dem Osten“ verändert hat. Hoffnungsvoll stimmt dagegen die Tatsache, dass die nachfolgende, hierzulande geborene und sozialisierte Generation, diese verzerrte Sichtweise und die Vorurteile nicht direkt erleben muss.