Hungersnot 1921–22 in Sowjetrussland und deutsche Siedler: Reaktionen in Deutschland
Wir setzen unsere Beschäftigung mit dieser von harter bolschewistischer[1] Hand verursachten Katastrophe fort – siehe „Dokument des Monats Januar 2021“ – und präsentieren nun weitere zeitgenössische Quellen, welche die Reaktionen im Deutschen Reich auf dieses Ereignis veranschaulichen. Insbesondere das Schicksal der deutschen Siedler-Kolonisten an der Wolga und in der Ukraine, die nach dem Wortlaut einer Handreichung „in dieses furchtbare Hungerelend hereingerissen“ wurden, rief große Anteilnahme in den breiten Schichten der deutschen Gesellschaft hervor. Was an den Inhalten aus diesen vergilbten Blättern aus heutiger Sicht so bemerkenswert erscheint, ist die Tatsache, dass dort praktisch jegliche Kritik an der Politik der neuen Machthaber, jegliche antikommunistische Anklage, sogar in den intern verfassten Papieren, fehlte. In der Hinsicht unterscheiden sie sich gravierend von den Zeitzeugnissen ähnlicher Ereignisse nur ein Jahrzehnt später. Oft war in diesen Jahren die Kritik der sozialistischen Gesellschaftsordnung und Politik, der sowjetischen Regierung und bolschewistischen (kommunistischen) Partei mit Stalin an der Spitze als Hauptverantwortlicher für das massenhafte Hungerelend und -sterben der Jahre 1932–34 nicht zu überhören.
Bei den vorliegenden historischen Überlieferungen handelt es sich v. a. um Unterlagen des Reichsausschusses „Brüder in Not“, der sich 1922 als Zusammenschluss mehrerer karitativer Organisationen und politischer Verbände in Berlin organisierte. Dieser Ausschuss hatte zum Ziel, vielfältige Aktivitäten und zahlreiche Hilfeaktionen „für die hungernden Russlanddeutschen“ zu koordinieren und zu bündeln. Die vom Ausschuss betreute Reichssammlung „Brüder in Not“ diente als Anlaufstelle für Geld- und Sachspenden. Der Ausschuss setzte seine Tätigkeit auch in den stark politisierten 30er Jahren fort. Die Adressaten seiner Hilfsaktionen in der UdSSR mussten allerdings – im Unterschied zu den 1920er Jahren – mit Diffamierungen (Empfänger von „Hitler-Hilfe“[2]), gesellschaftlichen Restriktionen und sogar strafrechtlichen Verfolgungen rechnen. Der griffige Slogan „Brüder in Not“ steht noch heute sinnbildlich für humanitäre Aktionen.[3]
Nachfolgend finden Sie alle vom BKDR zur Verfügung gestellten Dokumente:
Reichssammlung bzw. Spendenaktion „für die hungernden Russlanddeutschen“ in Berlin, mit einer polizeilichen Genehmigung für die Zeit vom 15. bis 30. Juni 1922:
Schreiben der Geschäftsstelle des Reichsausschusses (Dr. Weber) an den Pfarrer der Kirchengemeinde Berlin-Wilmersdorf, Lic. theol. Schettler, in dem die Situation in Sowjetrussland erklärt und gleichzeitig versichert wird, dass die Spenden an die Bedürftigen ankommen werden, Berlin, 13. Juli 1922:
Stellungnahme der Reichssammlung „Brüder in Not“ betr. hungernder deutscher Siedler-Kolonisten in Sowjetrussland, undatiert 1922:
Verzeichnis der Lichtbilder (Dias) aus dem Hungergebiet für den Auftritt in der Öffentlichkeit, mit der Beschreibung einzelner Aufnahmen und Hinweisen für den Referenten, undatiert 1922:
Sonderdruck der Blätter des Deutschen Roten Kreuzes, in dem das „furchtbare Schicksal der Russlanddeutschen“ thematisiert und für die Reichssammlung „Brüder in Not“ zu spenden aufgerufen wird. Undatiert, 1922:
[1] Bolschewismus: (russ. bolschinstwo, »Mehrzahl«), politische Strömung in der russischen Sozialdemokratie, die sich 1903 in einen radikalen, sich selbst zur Mehrheit erklärenden Teil (sog. Bolschewiki) unter der Führung von Wladimir Iljitsch Lenin und den gemäßigten Teil der sog. Menschewiki (»Minderheit«) spaltete. Bolschewiki (B) waren in einer Kaderpartei vereint und verfolgten das Ziel, die Diktatur des Proletariats im Bündnis mit den Armbauern zu errichten. Standen für die Enteignungs-, Sozialisierungs-, Zentralisierung-, Indoktrinierungs- und Terrorpolitik. Im November 1917 rissen sie die Macht im Russischen Reich an sich und wurden ein Jahr später zur allein regierenden Partei (Staatspartei). Sie nannten sich zunächst als „Russländische Kommunistische Partei (Bolschewiki)“, die 1925–52 „Kommunistische Allunionspartei (B)“ [russ. Abk. WKP (B)] hieß und danach in Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) umbenannt wurde.
Bolschewik: im engeren Sinne Mitglieder der bolschewistischen Partei, im weiteren Sinne Anhänger des Bolschewismus.
[2] 1933 spendeten Adolf Hitler als Reichskanzler und Paul von Hindenburg als Reichspräsident dem Ausschuss „Brüder in Not.“
[3] So trägt ein Spendenprojekt der Evangelisch-Lutherischen Freikirche (ELFL) z. B. diesen Namen. In der Selbstbeschreibung der ELFK steht dazu:
„Jedes Jahr zu Weihnachten werden in unseren Gemeinden Gelder gesammelt, um Glaubensgeschwistern auf der Welt zu helfen, die in Not geraten sind.“ [HIER abrufbar]