Merkwürdiges Intermezzo: Zwischen Kriegsausbruch und Deportation (22.06.‒30.08.1941)
Das Jahr 2021 ist für die Geschichte der Russlanddeutschen weltweit nicht nur der 100. Jahrestag des Beginns einer Hungerkatastrophe, die unzählige Menschenleben gefordert hat. Eine noch verheerendere Wirkung zeigte die 20 Jahre später erfolgte totale Deportation der gesamten deutschen Bevölkerung der UdSSR, die den Auftakt zu ihrer jahrzehntelangen Verfolgung, Entrechtung und Diskriminierung bildete.
Mit der vorliegenden Dokumentation beginnen wir, wenig bekannte zeitgeschichtliche Dokumente zur Lage der „Sowjetbürger deutscher Nationalität“ sowohl während als auch nach dem „Großen Vaterländischen Krieg“ 1941-45 zu präsentieren. Der Angriff NS-Deutschlands auf die UdSSR fand bekanntlich am 22. Juni 1941 statt. Die Sonderbehandlung der Deutschen in der Sowjetunion begann vollends erst ab der Verkündung des Deportationserlasses etwa zwei Monate später am 30. August. In der Zwischenzeit lebten sie in einer „Kriegsnormalität“. Ihre Lage glich weitestgehend der Lage der anderen Sowjetvölker, die sich im Machtbereich des bolschewistischen Staates befanden.
Diese kurze Zeitspanne wird anhand ausgewählter Berichte der Zentralzeitung der Autonomen Wolgadeutschen Republik „Nachrichten“ veranschaulicht, die in der Hauptstadt Engels bis zum 30. August 1941 erschien. Es ist das einzige Presseorgan für die UdSSR-Deutschen außerhalb der Wolgarepublik in den Jahren 1935‒38, das nicht geschlossen wurde. Natürlich geben derartige Quellen nur eine offizielle und dazu noch ideologisch und propagandistisch verzerrte Sicht der Ereignisse wieder. Dennoch reflektierten sie einen Teil der damaligen Wirklichkeit und prägten die Lebens- und Erfahrungswelt der Menschen.
[Untenstehend werden Ihnen alle Dokumente als Download zur Verfügung gestellt]
Erst die Ausgabe der „Nachrichten“ vom 24. Juni enthielt die Rundfunkrede des Außenministers Molotow vom 22. Juni sowie die wichtigsten Erlässe der ersten Kriegstage (Dok01). Darüber hinaus wurde in dieser Ausgabe über Empörungen der Bevölkerung der Republik berichtet und patriotische Kundgebungen angeführt, die hier ähnlich wie im restlichen Land stattfanden (Dok02).
In den nächsten Tagen und Wochen brachte die Zeitung neben Übersetzungen von Leitartikeln der „Prawda“ und Mittelungen des wichtigsten Propagandaorgans der Partei und Regierung während des ganzen Verlaufs des Krieges aus Sicht des Sowjetischen Informationsbüros („Sowjet-Informbüro“) auch Nachdrucke aus den zentralen Zeitungen zum Kriegsgeschehen und zur internationalen Lage heraus. Diese Materialien beanspruchten bis zu drei Viertel des Zeitungsumfangs. Die Redaktion als Sprachrohr der Parteiorganisation und der Sowjetorgane der Wolgadeutschen Republik bemühte sich redlich, keinen Zweifel an der Loyalität der namensgebenden Nationalität, ihrem Patriotismus und der Ergebenheit der Staatsführung gegenüber aufkeimen zu lassen. Beinahe in jeder Ausgabe erschienen Meldungen über Kriegsfreiwillige (Dok03), Opfergaben in den Verteidigungsfond (Dok05, Dok16), besondere Wirtschaftsleistungen (Dok10, Dok14), die aktive Rolle der Frau in der Kriegszeit (Dok17), patriotische Gesinnung (Dok11), über Heldentaten der wolgadeutschen Soldaten und Offiziere im Kampf an der Front gegen das „hitlersche Faschistengesindel“ (Dok19) sowie ihre vorbehaltslose Unterstützung der Heimatfront (Dok15).
Die schöpferische Intelligenz stellte sich sofort in den Dienst der Kriegspropaganda – so auch die Schauspieler des Deutschen Staatstheaters in Engels (Dok04); Schriftsteller blieben ebenfalls nicht abseits der „Berichterstattung“ (Dok18). Einige versuchten sogar, die Kriegsereignisse künstlerisch zu verarbeiten – allerdings mit mäßigem Erfolg (Dok06). Gleichzeitig wurden eifrig Beiträge in den zentralen Massenmedien über die Wolgadeutschen an der Front (Dok20, Dok22) und im Hinterland (Dok07, Dok08) registriert und übersetzt.
Ähnlich strukturierte Artikel mit einer fast gleichen Wortwahl fanden sich in allen Massenmedien der nationalen Republiken und Gebietskörperschaften. Allerdings war hier eine nicht zu übersehende Besonderheit, welche die Wolgadeutschen – stellvertretend für alle „Sowjetbürger deutscher Nationalität“ – von allen Völkern der Sowjetunion unterschied: Die sprachliche und historische Verbundenheit mit dem Feindesland. Daher stammen die Bemühungen seit den ersten Kriegstagen, sich möglichst stark davon abzugrenzen, die Besonderheiten der eigenen historischen Entwicklung hervorzuheben und sich als ein eigenständiges sowjetisches Volk zu präsentieren. Dies funktionierte nicht ohne Geschichtsklitterungen, wie etwa in der direkten Hinwendung „An Genossen STALIN“ (Dok02):
„Das deutsche Volk an der Wolga verteidigte in den historischen Tagen des vaterländischen Krieges von 1812 gemeinsam mit dem russischen Volk die Unabhängigkeit Russlands vor den Heerscharen Napoleons. Die werktätigen Wolgadeutschen führten, eingereiht in die Rote Garde und später in die Rote Armee, einen aktiven erfolgreichen Kampf gegen die deutschen Okkupanten in der Ukraine, gegen alle Söldlinge des internationalen Imperialismus. Und jetzt, wo die faschistischen Beherrscher Deutschlands den eidbrüchigen Überfall auf unsere sozialistische Heimat verübt haben und versuchen, uns das mit solcher Mühe gewonnene Glück und die Freiheit zu rauben, sagen wir: Das wird niemals werden, nie wird es den Faschisten gelingen, das tapfere, kühne Sowjetvolk zu unterjochen! Jeder von uns ist bereit, auf beliebigen Posten seine heilige Pflicht vor der sozialistischen Heimat zu erfüllen.„
Man sprach von den „Deutschen an der Wolga“ als „gleichberechtigte Mitglieder der großen und freundschaftlichen Familie der Sowjetvölker“ (Dok09), über die „unter der Zarenherrschaft rechtslosen Kolonisten“, die nur „dank der Hilfe des großen russischen Volkes ein freies Volk geworden“ sind und „in der Sowjetunion ihre wahre Heimat gefunden“ haben. Man hob ferner hervor, dass die Wolgadeutschen „ihr nationales staatliches Eigenleben und ihre nationale sozialistische Volkskultur geschaffen“ haben (Dok11).
Auch die Sowjetführung versuchte zunächst ihrerseits, diese Besonderheit propagandistisch auszuschlachten. Seit Mitte Juli wurden in der Wolgadeutschen Republik zahlreiche Kundgebungen mit obligatorischen „offenen Briefen“ veranstaltet, adressiert an Deutschlands „werktätige Bauern“, an die Arbeiter, Intelligenz oder an Wehrmachtssoldaten. Sie wiesen eine beinahe identische Aufbaustruktur auf: Das glückliche, wohlhabende und gleichberechtigte Leben der Deutschen an der Wolga, durch Hilfe des großen russischen Volkes unter der weisen Führung der bolschewistischen Partei mit Stalin an der Spitze errungen, wurde mit dem Elend, Hunger und der Unfreiheit der Werktätigen in Deutschland unter dem Hitlerregime kontrastiert. Am Schluss wurden Aufrufe zum Sturz des Faschismus und damit verbunden Hitler laut. Auch zur Erhebung mit der Waffe gegen die faschistischen Unterdrücker wurde aufgerufen (Dok09). Sie wurden für so wichtig erachtet, dass sie in den Mitteilungen des Sowjet-Informbüros (Dok07) und in der Propagandazeitung für die Wehrmachtangehörigen „Die Wahrheit“ (Dok12) auftauchten.
Bei all dieser ideologisch-propagandistischen Meinungsmache darf nicht außer Acht gelassen werden, dass es unter den deutschen Sowjetbürgern und insbesondere unter den Wolgadeutschen eine durchaus beachtliche Zahl aufrichtiger Sowjetpatrioten und Antifaschisten gab, die sich mit der sozialistischen Heimat identifizierten. Vor allem die Städter, aktive Rotarmisten, Parteigenossen und Mitglieder des kommunistischen Jugendverbandes (Komsomol) zeigten sich bereit, gegen den eingedrungenen Feind mit Waffengewalt zu kämpfen. Das kurze Leben des jungen Komsomolzen Heinrich Hoffmann aus dem Dorf Rosental, Kanton Krasny-Kut in der ASSR der Wolgadeutschen, ist ein beredtes Beispiel dafür (Dok22, Dok23).
Über seinen Kampf gegen die Hitler-Faschisten und den Märtyrertod berichtet landesweit am 24. August 1941 die Jugendzeitung „Komsomolskaja Prawda“ und veröffentlichte ein Foto von Hoffmanns blutbeflecktem Mitgliedsbuch. Auf seinen Namen begannen Soldaten bereits Rache zu schwören. Jedoch ließ ihn die kurz danach begonnene Deportation in Vergessenheit geraten. Aus genau diesem Grund wurde dieser Wolgadeutsche nicht in den sowjetischen Heldenkanon mit Namen wie etwa Soja Kosmodemjanskaja, Alexander Matrosow oder Mussa Dschalil aufgenommen, obwohl sein Fall dem üblichen Muster der Heroenbildung ähnelte.
Diese Gelegenheit aufgreifend, beschwor die Republikführung in einem Leitartikel in der gleichen Nachrichten-Ausgabe vom 29. August erneut mit drastischen Worten die Großtat des „standhaften Sowjetpatrioten Heinrich Hoffmann“, den gemeinsamen Kampf des „Sowjetvolkes des freien und glücklichen ASSR der Wolgadeutschen“ mit anderen Völkern gegen „Hitlers entmenschte Banditenrotten“ und die Rache an der „faschistischen Bestie“ (Dok21). In vielen Erinnerungen der Zeitzeugen ist deshalb dieser Fall so stark ins Gedächtnis eingeprägt worden, da als Kontrapunkt dazu bereits am nächsten Tag (!) der Erlass „Über die Übersiedlung der Deutschen, die in den Wolgarayons wohnen.“ veröffentlicht wurde. Dies ist jedoch ein sehr weitreichendes und eigenständiges Thema.
Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass die Schicksale einiger Verfasser dieser Zeitungsartikel bzw. der dort erwähnten Personen nach dem Deportationserlass nachverfolgt werden konnten. Darüber wird in den nächsten Mittelungen berichtet.
Dokumentation
Zeitungsartikel aus den „Nachrichten“ (Engels), 1941 (außer Dok12)
Dok01: Bekanntgabe des Kriegszustandes, Nr. 146 v. 24. Juni:
Dok02: Zusammenkünfte in der Wolgarepublik anlässlich des Angriffs NS-Deutschlands, Nr. 146 v. 24. Juni:
Dok03: Schutz des Vaterlandes, Nr. 150 v. 28. Juni:
Dok04: Deutsches Staatstheater, antifaschistische Stücke, Nr. 151 v. 29. Juni:
Dok05: Stärkung der Verteidigung, Bürgerkrieg-Teilnahme, Nr. 155 v. 7. Juli:
Dok06: Patriotisches Gedicht des Schriftstellers Herbert Henke, Nr. 163 v. 13. Juli:
Dok07: Sowjet-Informbüro über Bauern aus dem Kanton Krasnojar, die einen Aufruf an die deutsche Bauernschaft richteten, Nr. 164 v. 15. Juli, 2-te Spalte:
Dok08: Eine weitere Mitteilung des Sowjet-Informbüros über wolgadeutsche Bauern, Nr. 164 v. 15. Juli, 2-te Spalte:
Dok09: „Kehrt die Bajonette gegen Eure Unterdrücker“ – Aufrufe der wolgadeutschen Intelligenz und der Kolchosbauern an die deutschen Geistesarbeiter, „versklavte Werktätige“ und Wehrmachtssoldaten, Nr. 164 v. 15. Juli:
Dok10: Selbstlose Arbeit im Kanton Krasnojar. Unterredung mit Jakob Müller, dem Sekretär des Kantonparteikomitees, Nr. 168 v. 19. Juli:
Dok11: „Das gleichberechtigte deutsche Volk an der Wolga“ marschiert in den ersten Reihen der Verteidiger des Vaterlandes, Leitartikel in d. Nr. 169 v. 20. Juli:
Dok12: Wolgadeutsche Aufrufe in der sowjetischen Propagandazeitung „Die Wahrheit“ für die feindlichen Soldaten: „Stürzt den Faschismus! Tod dem Hitler!“, 17. Juli 1941:
Dok13: Zeichen der Normalität: Aufnahmebedingungen in das Deutsche Staatliche Pädagogische Institut, Nr. 172 v. 24. Juli:
Dok14: „Zur Verteidigung der Heimat“: Patriotische Taten der Werktätigen des Marientaler Kantons, Nr. 177 v. 30. Juli:
Dok15: „Vernichten wir das hitlersche Faschistengesindel“: ein Brief von Eltern aus dem Dorf Herzog an ihre Söhne in der kämpferischen Armee, Nr. 183 v. 6. August:
Dok16: Beitrag des Abgeordneten des Obersten Sowjets der UdSSR, Adolf Dehning: „Alle Mitteln für den Verteidigungsfond“, Nr. 188 v. 12. August:
Dok17: Heldenmütige Frauen: Wie sie neue Berufe erlernen, um die einberufenen Männer zu ersetzen, Nr. 190 v. 14. August:
Dok18: Reportage des Schriftstellers Karl Welz „In der Wolgasteppe“ über das Dorfleben im Krieg, über Völkerfreundschaft, Produktionserfolge und über patriotische Gesinnung und Taten, Nr. 191 v. 15. August:
Dok19: „Wir kämpfen bis zum letzten Blutstropfen…“, Brief des Scharfschützen Klemens Weßner, Nr. 191 v. 15. August:
Dok20: „Ruhmvolle Landsleute“: Berichte die zentralen russischsprachigen Massenmedien über wolgadeutsche Soldaten und Offiziere, Nr. 200 v. 26 August:
Dok21: Das letzte Aufbäumen: Leitartikel „Allvernichtend ist der Zorn des Volkes“ anlässlich des Berichts der zentralen Jugendzeitung „Komsomolskaja prawda“ über den Heldentod von Heinrich Hoffmann, eines jungen Komsomolzen aus dem Kanton Krasny-Kut, Nr. 203 v. 29. August:
Dok22: Übersetzter Beitrag über Heinrich Hoffmann mit dem Racheschwur der Krasny-Kuter Komsomolzen, Nr. 203 v. 29. August:
Dok23: Hoffmanns beschädigter (durchbohrter?) Komsomolzen-Ausweis in lesbarer Qualität, Nr. 203 v. 29. August: