Internationale Konferenz in Regensburg

Am 6. und 7. Oktober 2023 fand am Wissenschaftszentrum Ost- und Südosteuropa (WiOS) in Regensburg eine hochkarätig besetzte Konferenz mit dem Titel „Vertreibung und Erinnerung. Forschungsstand und Geschichtspolitik im östlichen Europa“ statt. Führende Wissenschaftler dieses Fachgebiets aus Deutschland, Polen, Tschechien, Slowakei, Rumänien, Kroatien, Ungarn und Estland waren vertreten. Sie haben zum einen die Ursachen, den Verlauf und die Folgen der Umsiedlung, Deportation oder der Vertreibung der Deutschen aus ihren Ländern geschildert. Zum anderen wurden die Geschichtsschreibung und gesellschaftliche Auseinandersetzungen in der Nachkriegszeit mit dem historischen und kulturellen Erbe der einstigen deutschen Einwohner thematisiert.

Organisiert hat diese Tagung die Forschungsstelle „Kultur und Erinnerung. Heimatvertriebene und Aussiedler in Bayern 1945–2020“, die auf Initiative von Sylvia Stierstorfer, der Beauftragten der Bayerischen Staatsregierung für Aussiedler und Vertriebene, für den Zeitraum von 2022 bis 2025 gefördert wird. Angesiedelt ist sie beim Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg und wird von Prof. Dr. Katrin Boeckh geleitet.

Unser wissenschaftlicher Mitarbeiter Dr. Viktor Krieger war Teilnehmer der Konferenz und referierte zum Thema: „Die Ausreisebewegung nach Deutschland im Spiegel der sowjetischen und postsowjetischen Historiographie“.

Das Programm zur Konferenz finden Sie hier:

Zunächst stellte Viktor Krieger fest, dass die russlanddeutschen Bundesbürger hier im Lande aufgrund ihrer kollektiven und individuellen Erlebnisse eine Sonderstellung einnehmen: Ihr historisches Bewusstsein wird in erster Linie von den Ausgrenzungs-, Leidens- und Opfererfahrungen nach der bolschewistischen Machtergreifung 1917 geprägt. Der russische Gesetzgeber hat 1991 die deutsche Minorität – neben den anderen deportierten Völkern – als Opfer des Stalinismus anerkannt. Ihre eigenständige Erinnerungskultur unterscheidet sich stark von den in der Russländischen Föderation bzw. in Deutschland dominierenden Geschichts- und Erinnerungsnarrativen.

Danach erläuterte Krieger die Grundbedeutung des Kriegsfolgenschicksals für die Anerkennung als (Spät-)Aussiedler und analysierte kritisch die Aufnahmepraxis seit 1990. Sein Fazit: Die Exekutive vollzog – mit der tatkräftigen Unterstützung der Legislative – einen schleichenden, wenn nicht einen aushöhlenden Prozess der Umdeutung des Grundgesetzgedankens: weg von dem Kriegsfolgenschicksal und der Wiedergutmachung, hin zu umfassenden Integrationsvoraussetzungen. [vgl. hierzu: https://www.bva.bund.de/DE/Services/Buerger/Migration-Integration/Spaetaussiedler/04_Informationen/Historie/Historie_node.html].

Über eine wissenschaftliche Beschäftigung mit der Frage der Übersiedlung der Deutschen in die Bundesrepublik konnte in der UdSSR keine Rede gewesen sein. Der Wunsch eines Sowjetbürgers, in ein kapitalistisches Land zu ziehen, stellte in den Augen der Partei- und Staatsführung eine schwerwiegende antisowjetische Tat dar. Mit all den negativen Konsequenzen für den Betroffenen bis hin zur strafrechtlichen Verfolgung und Lagerhaft. Einige propagandistische Broschüren erschienen zum Thema, in denen das schwere Leben der verführten „Sowjetdeutschen“ in der kapitalistischen Bundesrepublik in drastischen Tönen geschildert wurde. Darüber hinaus existierte ein vielfältiges Untergrundschrifttum (Russlanddeutscher Samisdat), in dem Ursachen, Reaktionen und Ziele der Ausreisebewegung der 1960er bis 80er Jahre aus der Sicht der direkt betroffenen thematisiert wurden.   

Eine wissenschaftliche, eine fundierte auf empirischer Basis gestellte Erforschung des Phänomens der Emigration, konnte sich in der Sowjetunion nur während der Zeit der Perestroika und vor allem nach dem Zerfall der UdSSR etablieren. Krieger stellte einige Publikationen aus Russland und Kasachstan vor, die das Ausmaß des Wegzuges der Deutschen auf gesamtstaatlicher und regionaler Ebene detailliert schilderten.

Zum Schluss wurden einige Statistiken präsentiert. In der Nachkriegszeit bis zur Perestroika durften nur 95 Tsd. Personen bzw. lediglich 4% der Gesamtzahl im Rahmen der Familienzusammenführung nach Westdeutschland ausreisen. Das Groß der Betroffenen kam in den Jahren 1987 bis 2005, wobei das Jahr 1994 mit 213.214 Ausgereisten aus den GUS-Staaten den absoluten Höchststand stellte.

Ausreisedynamik aus der UdSSR bzw. Ländern der GUS, 1950–2022

Zeit-PeriodeAbsolutDurchschnittlich im Jahr
1950–197022 4921 071
1971–198672 6154 538
1987–20052 239 296117 858
2006–202287 4245 143
Insgesamt2 421 82733 176

Mit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes zum 1. Januar 2005 und den dort eingebauten Einschränkungen, so Krieger abschließend, sank die Zahl der (Spät-) Aussiedler drastisch: Durften 2004 noch fast 59 Tsd. Personen aus den GUS-Staaten einreisen, so betrug diese Zahl zwei Jahre später weniger als 8 Tsd., um 2012 mit gerade mal 1.782 (Spät-)Aussiedlern den tiefsten Stand seit 1986 zu erreichen. Westliche und postsowjetische Forscher datieren bisweilen das Jahr 2005 als sichtbares Zeichen der Erschöpfung des Ausreisepotentials in den Ursprungsländern; in Wirklichkeit ging die sog. Erschöpfung in erster Linie auf die höheren Aufnahmehürden der bundesdeutschen Seite zurück.