„Kergiesermichel“ als Nationalepos der Wolgadeutschen

Titelbild des Druckes über den „Kergiesermichel“ aus dem Jahr 1861.

Im historischen Gedächtnis der Wolgadeutschen nimmt die erste Ansiedlungszeit in der Nähe zum zentralasiatischen Raum einen besonderen Platz ein. Die Kolonisten mussten sich vollkommen anderen – als in der alten Heimat vorherrschenden – politischen, sozialen, geographischen und klimatischen Bedingungen stellen und erlebten anfänglich zahlreiche Schwierigkeiten und Entbehrungen bis hin zu Todesfällen. Dazu kam der Umstand, dass die Grenzen zu den Nomadenreichen im Süden des Russischen Reiches bis Anfang des 19. Jahrhunderts noch nicht gesichert wurden. Aus diesem Grund waren deutsche Siedler an der Wolga fast zwei Jahrzehnte lang gleich nach ihrer Ankunft zahlreichen Überfällen der kriegerischen kalmückischen und kirgisischen (kasachischen) Nomadenstämme ausgesetzt. Diese Ereignisse bildeten eine tiefe Zäsur in ihrem Leben und haben sogar Eingang in die Folklore und Literatur gefunden.

Robert Korn: ELEGIEN der WOLGASTEPPE. Der Kirgisenmichel-Stoff in der wolgadeutschen Literatur

Die bekannteste Sage aus diesen Zeiten erzählt über den Jungen mit dem Namen „Michel“ und seine Verlobte Anne-Marie, genannt „Schön-Ammi“. Er wurde aus der Kolonie Pfannenstiel (später Marienthal) bei einem Überfall am 15. August 1776 entführt und einem reichen Kirgisen (Kasachen) als Sklave verkauft. Durch gehor- und arbeitsames Benehmen gewann Michel das Vertrauen seines Herren sowie das Wohlwollen seiner Tochter. Diese verhalf ihm schließlich zur Flucht. Nach zwölfjähriger Abwesenheit kehrte Michel, von den Ortsbewohnern mittlerweile „Kergieser- oder Kirgisenmichel“ genannt, nach Marienthal zurück und heiratete seine alte Liebe: Die ihm treu gebliebene Anne-Marie. Diese Volksüberlieferung veröffentlichte zum ersten Mal im Jahr 1861 Pfarrer Friedrich Wilhelm Dsirne, der in den Jahren 1860ꟷ1872 in Catharinenstadt an der Wolga (Katharinenstadt) seelsorglich tätig war.

Dem Bayerischen Kulturzentrum der Deutschen aus Russland (BKDR) ist es gelungen, das Original der ersten Publikation in den Beständen der Estnischen Nationalbibliothek ausfindig zu machen und digitalisieren zu lassen. Aufgrund dieser Tatsache steht das Werk „Schön Ammi von Marienthal und der „Kergiesermichel“: Ein Steppenbild aus dem vorigen Jahrhundert“ (Dorpat 1861) von Pastor Friedrich Dsirne von nun an jedem Interessierten zur Verfügung.

Dieses hochwertige Digitalisat ist einer der ersten Titel in der virtuellen Bibliothek, die sich beim BKDR aktuell im Aufbau befindet und schon bald unseren Lesern vorgestellt wird.

Viel Spaß beim Lesen!