Konferenz zu Wolhyniendeutschen im mecklenburg-vorpommerischen Linstow
Was hat der kleine Ort Linstow im Landkreis Rostow mit seinen knapp über 500 Einwohnern mit den ursprünglich in der heutigen Nordwestukraine beheimateten Wolhyniendeutschen zu tun, sodass die Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen (KDV) vom 18. bis 20. Oktober 2022 genau dort eine wissenschaftliche Fachtagung zum Thema „Von Wolhynien zerstreut in alle Welt – Neue Perspektiven und Ansätze zur Erforschung der wolhyniendeutschen (Zwangs)-Migration“ veranstaltete?
Der Ort zeichnete sich dadurch aus, dass er zu den ganz wenigen Orten in der vormaligen DDR gehörte, in dem die im Jahr 1940 umgesiedelten Wolhyniendeutschen die Mehrheit der Bevölkerung stellten. Nicht von ungefähr entstand hier 1992 das Wolhynier Umsiedlermuseum, die einzige Einrichtung dieser Art in der Bundesrepublik.
Auf der Konferenz, die in den Räumlichkeiten des Museums tagte und unterschiedliche Aspekte der Geschichte und Gegenwart dieser nationalen Gruppe behandelte, referierte unser wissenschaftlicher Mitarbeiter, Dr. Viktor Krieger zum Thema der „Minderheitenpolitik in der Sowjetunion in der Zwischenkriegszeit“.
In seinem Vortrag beleuchtete Dr. Krieger zunächst die Entstehungsgeschichte und wichtige Phasen der Entwicklung des Sowjetstaates bis 1936, beginnend mit der Ausrufung der Russländischen Föderativen Sozialistischen Sowjetrepublik (RSFSR) Anfang 1918, über die Gründung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) im Dezember 1922 bis hin zur Unionsverfassung 1936. Der Autor zeichnete dabei das Entstehen – ungeachtet verfassungsrechtlicher Gleichstellung der Nationalitäten – einer faktischen Hierarchie der Völker der UdSSR. Die höchste Form nationaler Selbstbestimmung genossen die Titularnationalitäten der Unionsrepubliken. Nur eine Unionsrepublik verfügte etwa über das formale Recht, aus dem Unionsstaat auszutreten. Deshalb zerfiel die UdSSR 1991 in 15 unabhängige Staaten.
Die zweithöchste Form nationaler Selbstbestimmung in der Hierarchie der Sowjetvölker bildeten die autonomen Republiken. In der sowjetischen Rechtsauffassung wurde eine ASSR als ein nicht souveräner Staat betrachtet, der aus der Union nicht austreten durfte. Danach folgten die autonomen Gebiete sowie nationale Bezirke. Auf der untersten Ebene befanden sich die „autonomielosen“ Völker und zerstreut siedelnde nationale Gruppen, die praktisch über keine politischen oder sprachlich-kulturellen Mitspracherechte verfügten.
Im Anschluss daran ging Krieger explizit auf die letzteren Nationalitäten ein, die in der sowjetischen Verwaltungspraxis der Zwischenkriegszeit als nationale Minderheiten bezeichnet wurden. In den 1920ern bis Anfang der 1930er Jahre wurde auf ihre Belange noch gewisse Rücksicht genommen. Jedoch lässt sich seit Mitte der 1930er Jahre eine klare Linie hin zu verstärkten Ausgrenzungen und Repressalien gegenüber denjenigen Minderheiten beobachten, die ihre historischen Wurzeln außerhalb der UdSSR hatten: Sowjetbürger deutscher, polnischer, finnischer, estnischer, koreanischer u. a. Herkunft bildeten das Ziel strafrechtlicher Verfolgungen, Massendeportationen und gesellschaftlicher Diskriminierungen. Der totalitäre Staat stalinistischer Prägung fürchtete, dass durch solche Nationalitäten die ausländischen Staaten einen verderblichen Einfluss auf die UdSSR ausüben könnten. Ende der 1930er Jahre ließ man solche nationalen Rayons und Dorfräte, Schulen mit muttersprachlichem Unterricht, entsprechende Zeitungen u. ä. auflösen, schließen oder umfunktionieren.
Den Beitrag von Dr. Krieger am 17.10.2022 sowie die anschließende Diskussion können Sie sich auf dem YouTube-Kanal der Kulturstiftung HIER (ab 2:40:30) ansehen.