Konferenzen und Vorträge
Unser wissenschaftlicher Mitarbeiter, Dr. Viktor Krieger, nahm in den vergangenen Wochen an mehreren auswärtigen Veranstaltungen teil, in denen unterschiedliche Aspekte der historischen und kulturellen Entwicklungen der Russlanddeutschen aufgegriffen wurden. Nachfolgend präsentieren wir Ihnen aufgrund der Nachfrage eine kurze Auswahl mit einigen weiterführenden Links zur Selbstrecherche sowie einschlägigen Dateien zur selbstständigen Wissensaneignung.
Russlanddeutsche und ihre Geschichte
Am 17. Juni 2021 referierte Dr. Krieger an der Universität Passau in der virtuellen Vortragsreihe „Perspektive Osteuropa“, die unter Leitung von Prof. Dr. Thomas Wünsch konzipiert und von Danny Jurjević koordiniert wurde, zum Thema: „Russlanddeutsche und ihre Geschichte.“
Es ging vornehmlich um die Besonderheiten der Erinnerungskultur und des kollektiven Gedächtnisses der russlanddeutschen Bundesbürger.
Eingangs stellte Dr. Krieger fest, dass „im kollektiven Gedächtnis jeder sozialen, nationalen oder religiösen Gemeinschaft nur solche geschichtlichen Ereignisse verankert werden, die von der Mehrheit des jeweiligen Kollektivs unmittelbar miterlebt wurden und die Existenz und das Bewusstsein der nachfolgenden Generationen entschieden beeinflusst haben.“
Das zentrale Erinnerungsnarrativ der Russlanddeutschen sei maßgeblich von Ausgrenzungs-, Leidens- und Opfererfahrungen während der kommunistischen Herrschaft geprägt: Zwischen 1917 und 1948 sind schätzungsweise etwa 480 000 deutsche Kinder, Jugendliche, Frauen und Männer verhungert, im Archipel GULag umgekommen, an den Folgen der Deportation und Flucht verstorben oder erschossen worden. Für eine Ethnie, die Anfang der 50er Jahre lediglich ca. 1,35 Millionen Menschen zählte, ist dies eine beträchtliche Zahl.
In diesem Martyrologium nimmt der Regierungserlass vom 28. August 1941 einen zentralen Platz ein, der die totale Entrechtung und Marginalisierung der gesamten Minderheit einleitete und für die Betroffenen Verbannung in unwirtliche asiatische Regionen, wirtschaftliche Ausplünderung, kulturelle Zerstörung, Zwangsarbeit, Lagerhaft, Sondersiedlerregime und anhaltende Diskriminierung in der Nachkriegszeit bedeutete.
Ferner wurde auf den Umstand aufmerksam gemacht, dass in dem vom russischen Parlament am 26. April 1991 angenommenen Gesetz „Über die Rehabilitierung der repressierten Völker“ die deutsche Minderheit – neben anderen ebenfalls verfolgten Völkern – als Opfer des Stalinismus anerkannt wurden. Der Gesetzgeber sprach sogar von „der Politik der Verleumdung und des Genozids auf staatlicher Ebene“ und verpflichtete sich zu einer umfassenden Wiedergutmachung.
Darüber hinaus hat der bundesdeutsche Staat als Rechtsnachfolger des Dritten Reiches seinen Teil der Verantwortung für die missliche Lage auch der deutschen Minderheit in der UdSSR übernommen und ihr Kriegsfolgenschicksal anerkannt. Vor allem das Bundesvertriebenen- und Flüchtlingsgesetz (BVFG) aus dem Jahre 1953 bildet den Kern des sog. Kriegsfolgenrechts. Die historischen, rechtlichen, politischen, finanziellen und nicht zuletzt moralischen Verpflichtungen beider Staaten prägen bis heute das historische Bewusstsein der Betroffenen. Allerdings, so der Referent weiter, werden den opfergebundenen Erlebnissen der betroffenen Gruppe bis heute vorwiegend auf individueller Ebene und im familiären Kreise gedacht. Sowohl in Russland als auch in Deutschland gibt es – abgesehen von einigen Förderprojekten – keine dauerhaft finanzierten, staatlichen Institutionen der Geschichts- und Erinnerungskultur wie etwa Museen, Archive, Bibliotheken, Informations- und Dokumentationszentren, Gedenkstätten und Forschungsinstitute, die sich schwerpunktmäßig mit den historischen Erfahrungen der Russlanddeutschen und ihrem Kulturerbe befassen. Im gesellschaftlichen Diskurs sind sie kaum präsent.
Diesen – von vielen als Paradox empfundenen Umstand – erklärte der Historiker damit, dass die Erinnerungskultur dieser Bevölkerungsgruppe sowohl in Russland als auch in Deutschland gesellschaftspolitisches Unbehagen auslöst, weil sie sich von den dominanten Gedächtnis- und Erinnerungsnarrativen dieser Staaten stark unterscheidet. Schließlich drückte Krieger die Hoffnung aus, dass diese Besonderheit der historischen Erfahrungen von der aufgeklärten Öffentlichkeit beider Länder als Bereicherung der jeweiligen Erinnerungslandschaft wahrgenommen wird.
Die abschließende Diskussion zeigte das große Interesse und gleichzeitig einen erheblichen Wissensbedarf des anwesenden Publikums zu diesem Thema.
Der deutsch-sowjetische Krieg 1941–1945: Folgen und Nachwirkungen für die „Sowjetbürger deutscher Nationalität“
Eine weitere virtuelle Veranstaltung organisierte die Bildungsstätte „Der Heiligenhof“ in Bad Kissingen. Im Vortrag am 22. Juni 2021, am 80. Jahrestag des Angriffs Hitlerdeutschlands auf die UdSSR, ging es um die Folgen der Deportation und Entrechtung vor 80 Jahren, deren Nachwirkungen bis heute noch virulent sind. Etwa 50 Personen wohnten dem Vortrag bei. Das Thema des Vortrages lautete: „Der deutsch-sowjetische Krieg 1941–1945: Folgen und Nachwirkungen für die Sowjetbürger deutscher Nationalität.“
Zur Präsentation selbst gelangen Sie hier:
Dr. Krieger skizzierte u. a. den Weg zur ersten in der Geschichte des Sowjetstaates Liquidation einer von der Verfassung geschützten national-territorialen Autonomie – nämlich die der Wolgadeutschen – sowie der damit zusammenhängenden Zwangsaussiedlung Richtung Osten. Im gewissen Sinne diente diese Aktion als „Vorbild“ für die in den Jahren 1943–44 erfolgten Auflösungen der territorialen Autonomien einer Reihe anderer sowjetischer Völker (Kalmücken, Tschetschenen, Krimtataren etc.) und ihrer Verbannung vornehmlich nach Zentralasien. Auch diente die Deportation der Wolgadeutschen und anderen Gruppen der deutschen Sowjetbürger als Rechtfertigung für die Massenvertreibungen der deutschen Minderheit aus den osteuropäischen Staaten sowie den östlichen Gebieten des Deutschen Reiches.
Weder die sowjetische (nach dem Tod Stalins 1953) noch die russländische (nach dem Zerfall der UdSSR 1991) Führung waren willens – trotz zahlreicher Proteste der Betroffenen – ihren Staatsbürgern deutscher Nationalität zugefügtes Unrecht vollständig zu beseitigen und eine substantielle Wiedergutmachung zu leisten. Daher bleiben die Folgen der stalinistischen Politik bis heute unübersehbar: Vernichtung des kulturellen Erbes, Verlust der Muttersprache, politische und gesellschaftliche Marginalisierung, unterdurchschnittlicher Bildungsstand, Dominanz von manuellen Berufen.
Die anschließende, äußerst lebhafte Diskussion ging von der Vergleichbarkeit mit dem Schicksal etwa der Donauschwaben bis hin zum Wahlverhalten der Deutschen aus Russland.
Russlanddeutscher Samisdat
Vom 22.–23. Juli 2021 nahm unser wissenschaftlicher Mitarbeiter an der internationalen Konferenz „Lebenswelten von Russlanddeutschen in der Sowjetunion nach 1953 bis heute“ teil, die vom Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold und der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen organisiert wurde. Dort referierte er zum Thema „Russlanddeutscher Samisdat“, begleitet von einer visuellen Präsentation. Die Online-Fachtagung kann in voller Länge auf dem YouTube-Kanal der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen angesehen werden.
HIER gelangen Sie direkt zum Vortrag von Dr. Krieger.
80 Jahre danach. Erlass vom 28. August 1941 als Schlüsselereignis der russlanddeutschen Geschichte
Darüber hinaus fand am 26. Juli 2021 ein öffentlicher Video-Vortrag von Dr. Krieger statt, bei dem etwa 30 Personen aktiv beteiligt waren. Organisiert wurde der Vortrag von der Interessengemeinschaft der Deutschen aus Russland in Hessen, einer Partnerorganisation der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland Hessen e. V. (LmDR) sowie der Deutschen Jugend aus Russland Hessen e. V. (DJR).
Das Thema lautete: „80 Jahre danach. Erlass vom 28. August 1941 als Schlüsselereignis der russlanddeutschen Geschichte.“ Im Vortrag wurde die Bedeutung des Deportationserlasses vom 28. August 1941 angesprochen, der den Auftakt zu den jahrzehntelangen Verfolgungen und Diskriminierungen der deutschen Minderheit in der UdSSR bildete. Krieger ging auf die gravierenden und fortwährenden Folgen ein, die noch bis heute deutlich spürbar sind. Schließlich wurde der Stellenwert dieses Ereignisses in der Gedächtnis- und Erinnerungskultur der russlanddeutschen Bundesbürger erörtert. Der Vortrag rief im Anschluss eine lebhafte Diskussion hervor, die mehr als zwei Stunden andauerte. Daran wird deutlich, wieviel Aufklärungsarbeit notwendig und wie groß das Interesse auf diesem Themengebiet ist.