Einer von Hunderttausenden, die nicht gebrochen wurden: Das bemerkenswerte Leben von Leopold Kinzel (1922-2020)

Leopold Kinzel, der Verfasser der unten verlinkten Erinnerungen, ist am 19. August 1922 im Dorf Neubauer, Kanton Krasny Kut in der Wolgadeutschen Republik, zur Welt gekommen. Seine Familie lebte für eine längere Zeit im Kantonzentrum Krasny Kut. Da sein Vater ein staatlicher Angestellter war, musste er einige Male den Arbeitsplatz wechseln, sodass Leopold sowohl deutsch- als auch russischsprachige Schulen besuchte und dementsprechend beide Sprachen perfekt beherrschte. Nach der Absolvierung der Mittelschule im Juni 1940 wurde L. Kinzel in die Armee eingezogen und in eine Offizierschule nach Uljanowsk geschickt. Allerdings wurden er und einige deutsche Kursanten Anfang September 1941 von dieser militärischen Lehranstalt relegiert. Er folgte seinen Eltern in die Verbannung in die Region Altai. Dort arbeitete er einige Monate als Nachtwärter im Pferdestall.

Auf dem Foto sehen Sie Leopold Kinzel (links) mit seiner Mandoline und Alfred Renz (rechts) mit seiner Mundharmonika (2012). Foto: Mathias Wiedemann.

Im Januar 1942 wurde L. Kinzel zur Zwangsarbeit in das Holzfällerlager Iwdel im Norden des Gebiets Swerdlowsk im Ural mobilisiert. Dieses Lager beherbergte 17.827 Zwangsarbeiter – mehr als 95 Prozent davon waren Deutsche. Offiziell hieß dieser Einsatz beschönigend „Arbeitsmobilisierung“, umgangssprachlich „Trudarmija“ (Arbeitsarmee). Seinen Vater und Bruder ereilte dasselbe Schicksal. Im Lagerpunkt „Taliza“ musste Leopold mit den deutschen Leidensgenossen unter schwersten Bedingungen mit miserabler Bekleidung und schlechter Ernährung sowie Frosttemperaturen von bis zu minus 45 Grad im tiefen Schnee Holz fällen. Wegen Unterernährung und Erschöpfung starben viele seiner Kameraden. Nach offiziellen Angaben gab es 2.890 Todesfälle zu verzeichnen.

Im August 1946, nach der formalen Auflösung des Regimes der Zwangsarbeit, ließ man ihn nicht frei. Er musste gemeinsam mit einigen Altersgenossen am Hauptstandort des Iwdel-Lagers Häftlinge bewachen. Inzwischen (1947) geheiratet, ließ man ihn und seine Frau erst im Dezember 1949 zu den Eltern ziehen, eskortiert von einem Milizbeamten. Im August 1952 erlaubte die Sonderkommandantur der Familie Kinzel den Umzug ins Dorf Kijaly im Gebiet Nordkasachstan. Dort wohnten nahe Verwandte der Ehefrau Irma.

Nach Stalins Tod im März 1953 sind einige Erleichterungen im Leben der Sondersiedler aufgetreten. Dem Bildungsdrang folgend, ergriff L. Kinzel die sich bietende Gelegenheit, in der Dorfschule von Kijaly ab Ende 1953 Deutschunterricht zu erteilen. Im Juni 1954 durfte er mit der Einwilligung des Ortskommandanten im Gebietszentrum Petropawlowsk an der Pädagogischen Hochschule ein Fernstudium in den Fächern Physik und Mathematik aufnehmen, das er 1960 mit Diplom abschloss. 1970 nahm Herr Kinzel im Fach der Geschichte erneut ein Studium in Petropawlowsk auf. Von 1953 bis zur Ausreise nach Deutschland im Jahre 1994 arbeitete Leopold Kinzel als Lehrer in der Siedlung Kijaly, davon von 1964 bis 1982 als Schuldirektor.

1990 gründete er im Dorf die Ortsgliederung der deutschen Gesellschaft „Wiedergeburt“ und war in den Jahren 1991, 1992 und 1993 Delegierter der Kongresse der Russlanddeutschen. Sein gesamtes Leben lang sehnte er sich nach seiner „wahren Heimat“ an der Wolga, nämlich Krasny Kut, während er Kijaly als eine „provisorische Heimat“ betrachtete.

Enttäuscht von der ablehnenden Haltung der Regierung in Russland und der örtlichen russischen Bevölkerung im Gebiet Saratow, dem der Großteil des Territoriums der einstigen Wolgadeutschen Republik 1941 zugeschlagen wurde, entschloss sich Leopold Kinzel nach Deutschland überzusiedeln. Ab September 1994 wohnte er in Stendal, Sachsen-Anhalt. 2001 zog er nach Schweinfurt in Bayern in die Nähe seiner Tochter Larissa, wo er am 20. Dezember 2020 im Alter von 98 (!) Jahren an den Folgen einer schweren Krankheit verstarb.

Leopold Kinzel war zeit seines Lebens ein leidenschaftlicher Musiker. Mit zehn Jahren beherrschte er die Balalaika und mit zwölf die Mandoline, spielte im Schulorchester, lernte dort auch die Grundlagen des Geigen- und Klavierspiels. In der Nachkriegszeit leitete er in der Dorfschule in Kujaly ein Musikorchester. Auch nach Ankunft in der Bundesrepublik ließ er seine Leidenschaft für die Musik nicht ruhen und nahm in Stendal am Chor „Russlanddeutsche Singgruppe“ teil. In Schweinfurt gründete L. Kinzel eine Mandolinen- und Gitarrengruppe der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland (LmDR). Unter seiner Leitung absolvierte sie bis zu zwei Dutzend Auftritte im Jahr und unterhielt das Publikum mit Volksliedern und -musik.

Ein Manuskript der Erinnerungen von Leopold Kinzel steht Ihnen hier als Download zur Verfügung: