„Loyalität, Vertrauen, Diskriminierungserfahrung“
Die Deutschen im Russländischen Reich, in der Sowjetunion, den Nachfolgestaaten und nach der Übersiedlung nach Deutschland und ihr Verhältnis zum Staat
Vom 18. bis zum 20. Oktober 2024 fand eine weitere wissenschaftliche Konferenz in den Räumlichkeiten des Bayerischen Kulturzentrums der Deutschen aus Russland (BKDR) in Nürnberg statt. Initiiert und durchgeführt wurde diese vom BKDR in Kooperation mit der Wissenschaftlichen Kommission für die Deutschen in Russland und in der GUS (WKDR) unter ihrem Vorsitzenden Prof. Dr. Dietmar Neutatz von der Freiburger Universität. An der hybriden Konferenz haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Deutschland, Russland, Kasachstan, Österreich, der Ukraine und Kanada teilgenommen.
Die Geschichte der Deutschen im Russländischen Reich, in der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten bot im Verlauf von zwei Jahrhunderten vielfältige Konstellationen, in denen sich die Frage nach dem Verhältnis zum Staat einerseits und den Erfahrungen mit der Staatsmacht andererseits stellte. Loyalität, Vertrauen und Diskriminierungserfahrung sind in diesem Kontext hilfreiche Kategorien, die in der neueren Forschung zu multiethnischen Imperien fruchtbar gemacht wurden. Nachstehend ein tiefer Einblick in die Vortragsthemen der entsprechenden Referenten.
Nachstehend finden Sie das Programm der Tagung des BKDR in Kooperation mit dem WKDR:
In seinem Einführungsvortrag „Das Verhältnis der deutschen Kolonisten zum russländischen Staat und zu Deutschland bis 1918“ hat Dietmar Neutatz plausibel nachgewiesen, dass deutsche Siedler im ausgehenden Zarenreich trotz wachsender germanophober Propaganda loyal zum russischen Staat standen. Im Ersten Weltkrieg, ungeachtet bitterer Erfahrungen von Diskriminierungen und Ausgrenzungen, leisteten sie als Soldaten, Sanitäter (Mennoniten) und Offiziere einen treuen Dienst in der russischen Armee. Anknüpfend an diesen Beitrag zeigte die ukrainische Wissenschaftlerin Natalia Venger, die jetzt in Kanada lebt und dementsprechend zugeschaltet war, am Beispiel von Mennoniten die wachsende Enttäuschung von der Autokratie und dem herrschenden System, die in erste Linie auf antideutsche Staatspolitik und Stimmungsmache seit den 1870er Jahren zurückzuführen sei.
Mehrere Vorträge beleuchteten dahingehend die Lage der deutschen Minderheit im Zweiten Weltkrieg, insbesondere nach dem Angriff NS-Deutschlands auf die UdSSR. Irina Tscherkasjanowa aus Petersburg, die ebenfalls online zugeschaltet war, griff das noch wenig beachtete Thema der deutschen Rotarmisten in den ersten Kriegsmonaten auf und versuchte, einzelne Schicksale zu rekonstruieren.
Indes wesentlich zahlreicher wurden die deutschen Sowjetbürger, auch solche im wehrdienstfähigen Alter, zur Zwangsarbeit herangezogen. Viktor Kirillow von der Universität Jekaterinburg (per Onlineschalte) zeichnete durch Auswertung von mehr als 100.000 Erfassungskärtchen ein düsteres Bild der „mobilisierten Deutschen“ in den Arbeitslagern im Ural. Ohne jegliche Arbeitserfahrung und mit Hungerrationen ausgestattet, gingen sie auf den Baustellen und beim Holzfällen im Winter bei Temperaturen von bis zu -40⁰ zu Abertausenden zugrunde. Dieses Kapitel der nationalen Geschichte gehört mit Recht zum festen Bestandteil der russlanddeutschen Erinnerungskultur.
Im gleichen Zeitraum bewegt sich die Darstellung von Vladimir Martynenko (Kiew) über das Verhältnis der Ukrainedeutschen unter der reichsdeutschen Besatzungsmacht. Massenhafte Schikanen, Verfolgungen und der blanke Terror seitens des Sowjetstaates in der Zwischenkriegszeit führte dazu, dass diese Menschen in der Wehrmacht ihre Befreier sahen und sich größtenteils loyal zu den Besatzern verhielten.
Eine Reihe der Referenten untersuchen darüber hinaus das wandelnde Loyalitäts- und Resistenzverhalten bei den Deutschen seit Mitte der 1950er Jahre, das sich teilweise durch die verweigerte Gleichstellung mit anderen sowjetischen Völkern auszeichnete. Andersherum lassen sich die langsam wachsenden privaten und gesellschaftlichen Freiräume neben den – wohlgemerkt unzureichenden – staatlichen Integrationsbemühungen nicht leugnen. Victor Dönninghaus (Lüneburg) befasste sich mit der deutschen Autonomiebewegung in der Regierungszeit unter Leonid Breschnew (1964-1982), die oft verklärend als „goldene Jahre der Sowjetzeit“ bezeichnet wurden. Johannes Dyck (Detmold) untersuchte die Politik des Sowjetstaates nach dem Tod von Stalin (1953) gegenüber den deutschen Freikirchen und arbeitete einzelne Zeitperioden heraus, die im Wechsel mal mehr und mal weniger Spielraum für religiöse Gemeinschaften boten und sich durch ein unterschiedliches Maß an Repressionen auszeichneten.
Seitens des Gastgebers trat Viktor Krieger, wissenschaftlicher Mitarbeiter des BKDR, mit dem Vortrag „Besonderheiten der politischen Dissidentenbewegung der Deutschen in der UdSSR (1970-1985)“ auf. Zu den Ergebnissen seiner Analyse gehörte der Befund, dass im Vergleich zu den Prozessen in den zwei vorangegangenen Dezennien hier eine stark wachsende Politisierung der Protestbewegungen stattfand. Es kam zu Verbindungen mit der sowjetischen Dissidentenbewegung, zu Appellen und direkten Kontakten ins Ausland sowie zur Gründung illegaler Komitees und Organisationen. Olga Litzenberger, ebenfalls wissenschaftliche Mitarbeiterin des BKDR, schilderte anhand von Zeitzeugeninterviews, soziologischen und historischen Analysen die Erfahrungen religiöser Repressionen sowie die Rolle der Religion nach der Deportation.
Für die Wissenschaftlerinnen aus Kasachstan, Julia Podoprigora (Astana) und Tamara Volkova (Almaty), standen verschiedene Aspekte der politischen Entwicklungen in der Republik nach 1991 und ihre Auswirkungen auf die deutsche Minderheit im Mittelpunkt der Betrachtung.
Ein Novum an dieser Konferenz bestand darin, angehenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern eine Möglichkeit zur Präsentation ihrer laufenden Projekte zu bieten. An diesem Format nahmen fünf Doktoranden teil, denen die Möglichkeit gegeben wurde, vor dem kompetenten Fachpublikum ihre aktuellen Vorhaben vorzustellen und sie besprechen zu können:
Katharina Fondis: Die „anderen“ Deutschen – Sprach-Archäologie und autoethnografische Notizen
Peter Aifeld: Nischnjaja Dobrinka – die erste Kolonie an der Wolga (1764–1941)
Alexandra Kolesnikova (König): Erfahrungsgeschichten der „sowjetdeutschen“ Kriegskinder
Tatjana Kohler (online): Fakten, Fehden und Fiktionen. Russlanddeutsche Geschichte zwischen Identitätspolitik und Erinnerungskultur
Natalja Salnikova (online): Russlanddeutsche Kultur im musealen Dispositiv
Dieses Format hat sich bewährt und soll bei künftigen Konferenzen beibehalten bzw. fortgeführt werden.
Abschließend sei noch auf drei Beiträge verwiesen, die am letzten Tag präsentiert wurden. Der bekannte Migrationsforscher Jannis Panagiotidis schaltete sich aus Wien zu und präsentierte seine Forschungsergebnisse über das Migrationsverhalten der Aussiedler aus der ehem. UdSSR und über soziokulturelle Besonderheiten der zweiten und folgenden Generationen. Edwin Warkentin (Detmold) sprach unter anderem über die neue Konzeption der Erinnerungspolitik für die Einwanderungsgesellschaft, die von der Kulturstaatsministerin Claudia Roth im Februar 2024 vorgelegt worden war und stellte fest, dass historische Erlebnisse der russlanddeutschen Bundesbürger darin nicht berücksichtigt sind. Der Politologe Felix Riefer (Bonn) rief in seinem Referat dazu auf, verstärkt die Widerstandstraditionen der Russlanddeutschen im sowjetischen Unrechtsstaat in Erinnerung zu rufen, um sich den unverfrorenen russischen Vereinnahmungsversuchen zu widersetzen.
Wir danken allen beteiligten Wissenschaftlern und Experten für die aktive Teilnahme sowie kritische Auseinandersetzung mit dem entsprechenden Themenkomplex im Rahmen der gelungenen Konferenz – wir freuen uns bereits jetzt auf weitere Konferenzen, denn ein wichtiger Informationsaustausch und das Aneignen neuer Kenntnisse sind in der Forschung unabdingbar! Ebenfalls ein Riesendank an C. Cunnar für die umfangreiche Unterstützung rund um die stattgefundene Konferenz.
Nachstehend einige Eindrücke der dreitägigen Veranstaltung in Nürnberg.