Erste russlanddeutsche Akademiker im Zarenreich (Folgen 17, 18 und 19)
In diesem Beitrag möchten wir Ihnen Agata Rempel (1895‒1969) vorstellen. Agata Rempel war die erste und leider einzige Frau aus dem Kolonisten- bzw. Siedlermilieu, die an der Universität Dorpat immatrikuliert wurde. Bekanntlich durften Frauen bis 1914 an russischen Hochschulen als gleichberechtigte Studierende nicht eingeschrieben werden; den Zugang zu höherer Bildung bzw. zu einem Studium hatten lange Zeit ausschließlich Männer. Als Ersatzangebote für Frauen gab es allerdings eine Reihe an privaten „höheren“ Bildungskursen, auch durften sie Hochschulvorlesungen als Gasthörerinnen besuchen. In beiden Fällen bekamen sie keine gleichwertigen Abschlüsse (mit Diplom bzw. anderen Abschlusszeugnissen) und konnten aus diesem Grund keine Promotionen angehen. Weder eine Berufslaufbahn im Staatsdienst noch der Erwerb vieler anderer Berufsqualifikationen wurde ihnen erlaubt. Wollten sie eine akademische Ausbildung genießen, mussten sie Hochschulen und Universitäten im Ausland aufsuchen. Während des Ersten Weltkrieges wurden derartige Ausbildungsverbote gelockert, doch erst die russische Februarrevolution 1917 hob die meisten Einschränkungen für das Studium von Frauen auf.
Die Lebenswege der Kinder aus der Familie Rempel waren sehr bemerkenswert. Die Eltern, Dietrich (1857‒1926) und Elisabeth Rempel (geb. Becker, 1859‒1926), stammten aus Gnadenfeld im Gouvernement Taurien und lebten längere Zeit in Memrik im Gouvernement Jekarinoslaw. Ihre acht Kinder erhielten zunächst eine vortreffliche Allgemeinbildung, drei von ihnen setzten ihre Ausbildung in Dorpat fort: Dietrich Rempel (1887‒1966) studierte dort von 1910 bis 1918 und schloss das Studium als diplomierter Arzt ab, ging 1922 in die USA und wurde dann nach der Approbation in einem privaten Krankenhaus angestellt. Maria Rempel (1890‒1973) legte 1913 an der Universität Dorpat Prüfungen ab und erwarb den Titel bzw. die Qualifikation „Hebamme erster Klasse“.
Agata Rempel absolvierte im Juni 1914 das Puschkin-Gymnasium in Dorpat und war vier Semester lang Teilnehmerin der privaten Kurse an der Universität Dorpat. Am 11. März 1918 wurde sie an der medizinischen Fakultät derselben Universität eingeschrieben. Das Datum der Exmatrikulation ist leider unbekannt.
Sie setzte ihr abgebrochenes Studium an der Universität Simferopol auf der Krim fort und erwarb 1923 ihr Arztdiplom. Danach arbeitete sie bis zu ihrer Verhaftung am 6. November 1937 als Ärztin in der Kinderklinik von Simferopol. Am 11. Mai 1938 wurde sie zu 10 Jahren Lagerhaft verurteilt. Die längste Zeit ihrer Haft verbrachte sie im PetschorscheldorLag in der ASSR der Komi, d. h. in einem Straf- und Arbeitslager, das der NKWD eigens für den Bau der strategischen Eisenbahnlinie im Nordosten der UdSSR eingerichtet hatte. Noch im Lager arbeitete sie als ausgewiesene Fachkraft in der wissenschaftlichen Sektion der Sanitätsabteilung des Petschor-Stroi und untersuchte Fragen, die mit der regionalen Pathologie und Akklimatisierung zusammenhingen.
1950 wurde sie als Deutsche nach Kasachstan verbannt und lebte bis zu ihrem Tod in der Stadt Schtschutschinsk (damals Gebiet Koktschetaw). Dort baute sie ein klinisches Laboratorium auf und leitete es bis 1967.
Informationen zu Agata Rempels letztem Lebensabschnitt nach dem Krieg sowie das oben befindliche Gruppenfoto stellte uns kürzlich ihre Verwandte, Elsa Schumejko, zur Verfügung, wofür wir ihr sehr dankbar sind. Wir versuchen weiterhin, die bestehenden Lücken in den Biografien der einstigen Studierenden der Universität Dorpat zu schließen und hoffen auf Unterstützung des Lesepublikums.
Mehr zu diesem Thema erfahren Sie unter:
Dr. Viktor Krieger (Folge 17), Verzeichnis der deutschen Siedler-Kolonisten, die an der Universität Dorpat studiert haben, in: VadW, Nr. 02/2022
Dr. Viktor Krieger (Folge 18), Verzeichnis der deutschen Siedler-Kolonisten, die an der Universität Dorpat studiert haben, in: VadW, Nr. 03/2022