Schriftsteller Wladimir Korolenko und die Russlanddeutschen im 1. Weltkrieg

Der berühmte russische Schriftsteller Wladimir Galaktionowitsch Korolenko (1853‒1921) war nicht nur ein vielgelesener Autor und begnadeter Publizist. Vor allem sein Auftreten gegen jegliche Art von staatlicher Willkür brachte ihm die ehrenvolle Bezeichnung „Russlands Gewissen“ ein. Große Anerkennung weltweit erwarb der Schriftsteller durch eine aktive Verteidigung der udmurtischen (Multan-Affäre, 1892–1896) und jüdischen (Bejlis-Affäre, 1911–1913) Bevölkerung in Ritualmordprozessen.

Kaum bekannt ist dagegen sein Auftreten im Jahr 1916, inmitten der erbitterten militärischen Auseinandersetzungen zwischen dem Deutschen und dem Russischen Reich, zugunsten der verfolgten und diskriminierten „russischen Deutschen“. Bezeichnend ist hierbei ein Brief (alten Stils) von Wladimir Korolenko an Karl Lindemann vom 26. Oktober 1916, der in der Handschriftabteilung der Russländischen Staatsbibliothek in Moskau aufbewahrt ist und uns als Rohschrift vorliegt. Untenstehend die erste und vierte Seite dieses einmaligen Dokuments, das hiermit zum ersten Mal (vorerst nur teilweise) veröffentlicht wird:

Karl Lindemann war Professor an der Landwirtschaftlichen Akademie in Moskau und stellte eine der wenigen Personen des öffentlichen Lebens dar, die gegen die germanophobe Hysterie und gesellschaftspolitische Diskriminierung der deutschen Siedler-Kolonisten protestiert hatten.

Hierzu schrieb er einige Bücher – eines davon schickte er Korolenko und bat ihn, zur ganzen Problematik Stellung zu nehmen.[1] In seiner Antwort schrieb ihm der Schriftsteller in seiner vorbehaltslosen Verurteilung des deutschfeindlichen gesellschaftlichen Klimas u.a.:

Hochgeschätzter Karl Eduardowitsch.

Ich erhielt Ihr Buch zu einer Zeit, als ich in einem abgelegenen Dorf lebte, wo mir die Ärzte nach einer schweren und langwierigen Herzerkrankung eine strenge Kur der völligen Ruhe verordneten. Erst im Herbst konnte ich, nach und nach und unsystematisch, meine Arbeit wieder aufnehmen. Dann habe ich angefangen, mich mit Ihrem Buch vertraut zu machen. Es fesselte mich sowohl durch seinen Inhalt als auch durch den Namen seines Autors, meines ehemaligen Professors…

[…]

Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei der Verteidigung dieser Menschen, die eine empörende Ungerechtigkeit hinnehmen müssen. Ich bin der Meinung, dass es dabei nicht nur um die Verteidigung allein der russischen Deutschen, sondern insgesamt um die Abwendung eines schwerwiegenden Vorwurfs geht, der dem ganzen russischen Vaterland unauflöslich anzuhaften droht.

Korolenko ließ es nicht nur bei privater Entrüstung bewenden. Am 8. November 1916 erschien im liberalen Moskauer Massenblatt „Russkije Wedomosti“ sein Artikel „Über den Kapitän Kühnen“, in dem er teilnahmsvoll und mitfühlend zeigte, was in jener Zeit einem russischen Staatsbürger deutscher Herkunft widerfahren konnte. Wie sich später herausstellte, hieß der Kapitän eigentlich Martin Kücken. Mit ihm stand der Schriftsteller ebenfalls zumindest kurzzeitig im Briefwechsel. Dieser Artikel wurde gleichermaßen in einigen anderen Blättern nachgedrückt, so bspw. am 10. November in der Zeitung „Nishegorodski Listok“, die in der Stadt Nishni Nowgorod herausgegeben wurde, wo Korolenko mehrere Jahre verbrachte:

Eine kommentierte deutsche Übersetzung des Zeitungsartikels sowie des Briefwechsels Korolenkos mit Lindemann und Kücken wird aktuell vorbereitet und demnächst veröffentlicht.


[1] Es handelt sich um folgende Ausgabe in russischer Sprache: Lindeman K.: Zakony 2-go fevralja 1915 (Ob ograničenii nemeckogo zemlevladenija v Rossii) i ich vlijanie na ekonomičskoe sostojanie Južnoj Rossii: kritičeskij razbor [Lindemann, Karl: Die Gesetze vom 2. Februar 1915 (Über die Begrenzung des deutschen Landbesitzes in Russland) und ihr Einfluss auf die ökonomische Lage in Südrussland: eine kritische Analyse]. Moskau 1915, online: http://elib.shpl.ru/ru/nodes/61917