Selektive Erinnerung

Am 5. Mai 2015, anlässlich des 70. Jahrestages der Nürnberger Prozesse, stiftete der Generalstaatsanwalt der Russischen Föderation eine Auszeichnung: die Rudenko-Medaille.

Rudenko-Medaillie, 2015 © Karagodin-Seite (HIER)

Sie wurde zu Ehren von Roman Rudenko (1907–1981), dem sowjetischen Chefankläger bei den Nürnberger Prozessen gegen die nationalsozialistischen Hauptkriegsverbrecher, geschaffen. Zugleich dient sie dazu, Mitarbeiter der Organe und Institutionen der Staatsanwaltschaft der Russischen Föderation für besondere Verdienste beim Schutz der Rechte und Freiheiten der Bürger sowie der Interessen von Staat und Gesellschaft auszuzeichnen.

Rudenko war über viele Jahre Generalstaatsanwalt der UdSSR (1953–1981), starb hochgeehrt und erhielt ein Staatsbegräbnis sowie ein Ehrengrab in Moskau. Er wurde Namensgeber verschiedener Organisationen und Stipendien; im Jahr 2015 würdigte ihn die russische Post mit einer Sonderbriefmarke.

Kaum jemand spricht jedoch über eine andere, wenig schmeichelhafte Seite der Biografie des späteren Chefanklägers und Generalstaatsanwalts: seine aktive Beteiligung an den stalinistischen Repressionen, insbesondere in den Jahren des Großen Terrors 1937–1938, als Staatsanwalt des Gebiets Stalin (heute Donezk). Rudenko war in dieser Zeit Mitglied des sogenannten Dreierausschusses des NKWD – einem Gremium, das mit rechtsstaatlichen Prinzipien nicht das Geringste zu tun hatte. Die sogenannte Gebietstroika bestand in der Regel aus dem Leiter der NKWD-Gebietsverwaltung, dem Ersten Sekretär des Gebietsparteikomitees sowie dem Gebietsstaatsanwalt. Sie fällte „Urteile“ auf Grundlage kurzer Fallbeschreibungen, die von den NKWD-Ermittlern vorbereitet wurden. Diese drei Personen entschieden über Leben und Tod von Tausenden Angeklagten, die meist durch Folter zu Geständnissen gezwungen worden waren und beschuldigt wurden, staatsfeindliche Verbrechen begangen zu haben.

Um das Ausmaß des Terrors im Gebiet Donezk zu verdeutlichen, seien einige Zahlen genannt: In den Jahren 1937 und 1938 wurden auf dem Gebiet – in den Grenzen nach 1991 – insgesamt 24.843 Personen verhaftet und verurteilt, darunter 8.741 Ukrainer, 5.487 Deutsche, 3.862 Griechen, 3.568 Russen sowie Angehörige weiterer Nationalitäten. Obwohl die deutsche Minderheit nur 1,5 % der Bevölkerung stellte, betrug ihr Anteil an den Repressierten 21,6 %, also mehr als das 14-Fache. Von den 5.487 verhafteten Deutschen wurden 77 % erschossen – unter aktiver Mitwirkung des damaligen Gebietsstaatsanwalts Roman Rudenko, der nicht nur willkürliche Urteile absegnete, sondern auch die „Rechtmäßigkeit“ der Mordaktionen ausdrücklich billigte. Sein Name findet sich auf zahllosen Erschießungsprotokollen.

Erschießungsprotokoll vom 19. Oktober 1938. © Zentralarchiv des Sicherheitsdienstes, Ukraine

Nachfolgend steht Ihnen die deutsche Übersetzung des Protokolls zur Verfügung:

Rudenko war ein typischer „Schreibtischtäter“, dessen politisches Überleben einzig seiner bedingungslosen Gefolgschaft gegenüber den Anweisungen von oben zu verdanken war. Als die Staatsführung zum Terror blies, machte er skrupellos mit. Später, unter Nikita Chruschtschow, beteiligte er sich aktiv an der Entstalinisierung und Rehabilitierung unschuldiger Sowjetbürger. Offenbar gelten im heutigen Russland Persönlichkeiten wie er als moralisch integre Vorbilder eines tadellosen Staatsdieners.