Eine historische Karte des wolgadeutschen Siedlungsgebiets, 1855

Mitte des 19. Jahrhunderts hatten sich die deutschen Kolonien an der Wolga wirtschaftlich, gemeinschaftlich und konfessionell konsolidiert, was sich unter anderem an den rasant gestiegenen Bevölkerungszahlen ablesen ließ: Wenn es bei der Ankunft an der Wolga in den 1760er-Jahren um 23,2 Tsd. Einwanderer ging und 1798 etwa 39,2 Tsd. Kolonisten beiderlei Geschlechts registriert wurden, wuchs ihre Zahl bis 1857 bereits auf 198,6 Tsd. (!) an. Davon entfielen rund 68 % auf die evangelischen und ca. 32 % auf die katholischen Gemeinden; die 1854 auf die Wiesenseite zugezogenen Mennoniten machten weniger als 1 % der deutschen Bevölkerung aus.

Das ursprüngliche Siedlungsgebiet der wolgadeutschen Bauern wurde von der Regierung gerade in den 1850er-Jahren stark erweitert, um der wachsenden Zahl der Landarmen bzw. -losen einen Ausweg aus der sich abzeichnenden Verarmung zu geben. Eine Karte aus dem Werk Atlas der Evangelisch-Lutherischen Gemeinen in Russland (St. Petersburg, 1855) vermittelt anschaulich die administrative Aufgliederung des Kolonistengebiets im Jahr 1855. Obwohl der Titel nur von ev.-luth. Gemeinden spricht, sind auf der Karte auch katholische und mennonitische Landkreise neben den neuen, noch nicht endgültig besiedelten Territorien abgebildet.

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Zwei bemerkenswerte Dokumente aus der Zeit des Ersten Weltkriegs

Dokument des Monats

Bild 1 (links): Bestätigung russischer Untertanenschaft, Wolost Prischib, Taurien, Schwarzmeerdeutsche @ Bundesarchiv (Berlin).

Im Ersten Weltkrieg wurden viele Menschen, deren Vorfahren vor hundert oder mehr Jahren den Einladungen russischer Zaren gefolgt waren, um dünn besiedelte Gebiete des Russischen Reiches zu erschließen, mit dem Vorwurf konfrontiert, sie seien keine russischen Untertanen, sondern feindliche Ausländer. Dieser Vorwurf zog für die Betroffenen oft fatale Folgen nach sich, da während des ausgebrochenen Krieges Angehörige und Sympathisanten feindlicher Staaten Enteignungen, polizeilichem Gewahrsam und anderen Restriktionen ausgesetzt waren. Die deutschen Bauern sowie Stadtbewohner Russlands wurden in der Presse und von Amtspersonen ständig denunziert, als seien sie de facto reichsdeutsche Bürger – unbeachtet der Tatsache, dass Männer jüngerer Jahrgänge genauso wie Russen, Ukrainer und Angehörige anderer Nationalitäten problemlos in die russische Armee eingezogen wurden. Darüber, wie viele von ihnen in diesem Krieg für ihre Verdienste ausgezeichnet, verwundet oder gefallen sind, gibt u. a. ein öffentlich zugängliches Internetportal mit Dokumenten aus dem Militärhistorischen Archiv in Moskau Auskunft.

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Dokumente jüngster Geschichte: Zwei Präsidentenerlasse zu einem ähnlichen Thema, die jedoch unterschiedlicher nicht sein könnten

In weniger als zwei Jahren, am 21. April 2014 und am 31. Januar 2016, hat Präsident Wladimir Putin zwei Erlasse in Bezug auf die Deportationen einiger Völker während der Stalinzeit unterzeichnet. Sie wurden hauptsächlich den zwei bis heute nicht vollständig rehabilitierten Nationalitäten gewidmet: den Krimtataren sowie den Wolgadeutschen – und damit insgesamt der Gruppe der Russlanddeutschen.

Auf dem Foto sehen Sie einen Teil der Absage in Bezug auf die Wiederherstellung der wolgadeutschen Autonomie. Quelle: Dr. Viktor Krieger.

Im ersten Fall handelte es sich um einen Rechtsakt betreffend die Rehabilitierung des Krimtatarischen und einer Reihe anderer Sowjetbürger armenischer, italienischer, griechischer, deutscher und bulgarischer Nationalität, die nach 1941 im Zuge der stalinistischen Repressalien aus der damaligen Autonomen Republik Krim deportiert wurden:

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Materialien der Gründungskonferenz der „Wiedergeburt“ (1989)

Zur Vorgeschichte und Gründung der Gesellschaft „Wiedergeburt“, welche die Rechte und Interessen der deutschen Minderheit in der UdSSR wahren sollte, haben wir HIER bereits ausführlich berichtet. Für ein besseres Verständnis der Absicht und damit verbunden den Zielen der zum damaligen Zeitpunkt neuen Organisation, stellen wir unseren Lesern eine Broschüre mit Materialien dieser Zusammenkunft vor. Sie erschien zu jener Zeit in russischer Sprache – ähnlich wie ein Schriftstück aus den Zeiten der Samisdat-Literatur – und trug die etwas sperrige Überschrift: „Materialien der I. Allunions–Gründungskonferenz der Sowjetdeutschen (Moskau, 28.-31. März 1989)“.

Die Teilnehmer der Konferenz haben neben dem Programm, Statut und der Resolution ein bemerkenswertes Dokument verabschiedet: Den Appell an die Bevölkerung, die auf dem Territorium der einstigen Autonomen Republik der Wolgadeutschen lebte. Dort stand unter anderem:

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Eine Landkarte aus dem Jahr 1938 als Instrument der nationalsozialistischen Ideologie

Dokument des Monats Februar

Im Rahmen der Rubrik „Dokument des Monats“ möchten wir eine vielsagende Landkarte aus dem Jahr 1938 präsentieren. Diese zeigt laut Überschrift „den deutschen Bevölkerungs- und Kulturanteil in den Staaten Europas“ an. Was allerdings unter „Kulturanteil“ wirklich gemeint ist, geht aus der grafischen Darstellung leider nicht klar hervor. Hier liegt die Vermutung nahe, dass die Begriffe „Deutsch“ und „Kultur“ als gleichbedeutend eingestuft werden.

Deutschsprachige Minderheiten in europäischen Ländern, 1938 © Bundesarchiv

Die Bevölkerungszahlen und Siedlungsgebiete sind ziemlich genau angegeben. Allerdings handelt es sich hierbei faktisch lediglich um die Anzahl von Deutschsprachigen in den jeweiligen Staaten, denn 1938 verstand sich die Bevölkerung in der Schweiz, Elsass-Lothringen mehrheitlich oder auch teilweise in Österreich nicht als Deutsche, sondern als eigenständige Nationalitäten bzw. Nationen. Die Karte wurde nach dem Anschluss Österreichs an Deutschland veröffentlicht, die österreichische Bevölkerung wurde aus diesem Grunde administrativ de facto zu den Reichsdeutschen gezählt.

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Geschichte eines sowjetischen Traktors und seiner deutsch-mennonitischen Erfinder

Dokument des Monats

Auf der unten vorgestellten Zeichnung sehen Sie ein einfaches, beinahe primitives Gefährt, den Traktor der Marke Saporoschez. Dieser ging in die Geschichte als erster sowjetischer Traktor ein, der serienmäßig produziert wurde. Die Anfertigung begann 1923 und lief bis 1927; insgesamt wurden davon 500 Stück (nach anderen Angaben 800 bis 900) hergestellt. Seine Entwickler, Ingenieure Leonhard Unger (1884-1937) und Gerhard Rempel (1885-1937), stammten aus der mennonitischen Siedlung namens Kitschkas (Einlage).

Der erste sowjetische Traktor „Saporoschez“, Zeichnung aus der Zeitschrift „Technika Molodeschi“ (etwa: Technik der jungen Generation), 1975

Geschichtlicher Rückblick

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bildete die Schwarzmeerregion das Zentrum des russischen landwirtschaftlichen Maschinenbaues. Die Landmaschinenindustrie im Russischen Reich erzeugte im Jahr 1911 Waren im Wert von 50.317.000 Rubel, davon fielen auf das Schwarzmeergebiet 27.210.000 Rubel, rund 54 Prozent des Gesamtwertes. Von den in der Statistik aufgeführten 164 südrussischen Fabriken befanden sich 66 in der Hand deutscher Siedler; der Jahresumsatz dieser Werke betrug 12.780.000 Rubel, d. h.  47 Prozent des Gesamtumsatzes in dieser wichtigsten Region. Man denke nur an die größte Pflugfabrik im Russischen Reich, die Johannes-Höhn-Pflugfabrik in Odessa, an die Landmaschinenfabriken Lepp & Wallmann in Chortitza oder an die Aktiengesellschaft „Handelshaus Ja. Koop – Werke für Landmaschinen und -inventar“ in Einlage (Kitschkas) – beide Ortschaften sind heute Teil der Stadt Saporoschje.

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Deutsches Generalkonsulat in Charkow zur Lage in der Ukrainischen Unionsrepublik …

Dokument des Monats: Aus dem Jahresbericht des Deutschen Generalkonsulats in Charkow, 1935

S. 1 des Berichts (weitere Auszüge s. unten)

Mit dem „Dokument des Monats“ März präsentieren wir Auszüge aus dem politischen Jahresbericht des Deutschen Generalkonsulats in Charkow zur Lage in der Ukrainischen Unionsrepublik, erstellt am 6. Dezember 1935. Charkow war bis Juni 1934 die Hauptstadt der Ukraine, und das Generalkonsulat verfügte entsprechend über eine erfahrene und fachkundige Personalbesetzung. Weitere deutsche Konsulate in dieser Republik gab es in Kiew und Odessa.

Ungeachtet der fast dreijährigen NS-Herrschaft in Deutschland zeichnet sich der Bericht durch eine ideologische Zurückhaltung und abgewogene Sachlichkeit aus, ausgenommen der Stellen, die sich mit der deutschen Minderheit in der Ukraine befassen. Das Auswärtige Amt blieb von der NS-Partei in der ersten Zeit offenbar weitgehend verschont, weil das NS-Regime eine Zeitlang auf den Rat der erfahrenen Diplomaten angewiesen war.

Viele Betrachtungen und Schlussfolgerungen in diesem Bericht erlauben einen fundierten Einblick in die inneren Verhältnisse in der Ukrainischen Sowjetrepublik. Der zentralen sowjetischen Staats- und Parteiführung sei es – unter anderem mithilfe der organisierten Hungerkatastrophe der Jahre 1932-1933 – weitgehend gelungen, zwei wichtige Gefahren für ihre Machtstellung zu unterbinden; sie brachen den Widerstand der Bauern und unterdrückten die ukrainische nationale Bewegung. Die Moskauer Machthaber konnten sich dabei auf eine breite Schicht der gefügigen Anhänger der neuen sozialistischen Ordnung sowohl auf dem Lande als auch (und vor allem) in der Stadt stützen.

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Der Friedensnobelpreisträger Andrei Sacharow und die Russlanddeutschen

Die Erforschung der Geschichte des nonkonformistischen Denkens und oppositioneller Bewegungen, des gewaltlosen Widerstandes im sowjetischen Unrechtsstaat ist und bleibt ein wichtiges Anliegen des Bayerischen Kulturzentrums der Deutschen aus Russland (BKDR). Dazu gehören unter anderem das Sammeln, Aufbewahren, die öffentliche Zugänglichmachung und Präsentation von Dokumenten verschiedener Art, sei es behördlicher oder privater Natur, die den friedlichen Kampf der Sowjet- bzw. Russlanddeutschen um ihre Bürgerrechte in der UdSSR anschaulich machen. Es sind Briefe und Tagebücher, Appelle und Bittschriften, Erinnerungen und Zeitzeugenberichte, Schriften und Periodika der Untergrundbewegung, audio- und audiovisuelle Zeugnisse und vieles mehr. Vor Kurzem überließ uns Eduard Deibert, ein bekannter Aktivist der Ausreisebewegung der Deutschen in der UdSSR und unermüdlicher Kämpfer um ihre Rechte sowohl in der Sowjetunion als auch in der Bundesrepublik, einen wesentlichen Teil seines umfangreichen Nachlasses. Daraus möchten wir nun einige relevante Dokumente öffentlich präsentieren.

Andrei Sacharow mit seiner Frau Jelena Bonner (1974)

Als Erstes zeigen wir Ihnen ein Bild, auf dem Andrei Sacharow, der weltberühmte Physiker, ehemaliges Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, Vorkämpfer für die Menschenrechte und Friedensnobelpreisträger, zusammen mit seiner Frau Jelena Bonner abgelichtet ist. Auf der Rückseite befindet sich Sacharows persönliche Widmung, die an Friedrich Ruppel adressiert ist. Dieses Bild mit der Widmung wird nun zum ersten Mal öffentlich zugänglich gemacht.

Der berühmte Regimekritiker nahm sich immer wieder auch dringender Anliegen der unterdrückten Sowjetdeutschen an und unterstütze sie bei ihren Aktivitäten tatkräftig. Wie z. B. Friedrich Ruppel, der einst prominenter Dissident und Herausgeber des Samisdat-Almanachs mit dem Titel „Re-Patria“ war.

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Vor 100 Jahren: Beginn einer Hungerkatastrophe unvorstellbaren Ausmaßes

Das Jahr 2021 steht nicht nur im Zeichen des Gedenkens an den 80. Jahrestag der Deportation der deutschen Bevölkerung der UdSSR. Eine nicht minder wichtige Bedeutung wird dem 100. Trauerjubiläum des Beginns der verheerendsten Hungersnot in der Geschichte der russlanddeutschen Minderheit beigemessen. Die Hungerkatastrophe der Jahre 1921-1922 suchte vor allem die russischen Gouvernements und nationalen Gebiete (Tatarstan, Baschkirien u.a.) entlang des Wolga-Flusses heim, betraf zusätzlich auch angrenzende Gebiete in Kasachstan, im Südural, Nordkaukasus und in der Ukraine. Dabei stellte die gerade 1918 entstandene Wolgadeutsche Autonomie eines der Gebiete dar, die am stärksten von der Hungersnot betroffen waren. Allein in diesen beiden Jahren sind unter den Wolgadeutschen mindestens 107,5 Tsd. Personen bzw. 27% der Einwohner des autonomen Gebiets (der Arbeitskommune) verhungert oder an Seuchen und Krankheiten elendig zugrunde gegangen. Siehe dazu: Bürgerkrieg und Hungersnot in der Wolgadeutschen Republik. Tausende und abertausende deutsche Siedler verhungerten in der Ukraine und auf der Krim, im Nordkaukasus und in Kasachstan. Insgesamt kostete diese humanitäre Katastrophe dem Sowjetstaat nicht weniger als 5 Mio. Menschenleben.

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Diplom von Konrad Kober

Die Dokumentensammlung des Kulturzentrums ist unlängst um ein aufschlussreiches Zeitdokument aus den 1930er Jahren reicher geworden. Es handelt sich um ein Zeugnis (Diplom) des Deutschen (Agro-)Pädagogischen Instituts (DPI), auch Deutsches Pädinstitut genannt, aus dem Jahr 1932, ausgestellt für Konrad Kober. Diese Hochschule war die erste akademische Bildungseinrichtung in der Autonomen Wolgadeutschen Republik und feierte 1932 ihre ersten Absolventen.

Umschlag des Diploms.
Zweisprachige Innenseite des Diploms.

Über den jungen Akademiker Konrad Kober ist bislang recht wenig bekannt. Er wurde 1908 im Dorf „Schäfer“, zu Sowjetzeiten Kanton Krasnojar, in der Familie des einstigen Dorfältesten Johannes Kober geboren. Nach der Absolvierung des DPI arbeitete er als Lehrer. Zusammen mit seinen vier Brüdern und Schwestern wurde Konrad mit seiner Frau und drei Kindern 1941 nach Sibirien deportiert. Er kam in einem Zwangsarbeitslager während eines Grubenunglücks um.

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