Im Oktober 2020 feierte der Literaturkreis der Deutschen aus Russland ein markantes Jubiläum – sein 25-jähriges Bestehen, und präsentierte aus diesem Anlass die Jubiläumsausgabe des Jahrbuchs. Dieser Band ist der russlanddeutschen Autorin und Dichterin Nora Pfeffer gewidmet, die im Dezember 2019 ein hundert Jahre alt geworden wäre. Die Grande Dame der russlanddeutschen Lyrik hat sich von Beginn an im Literaturkreis der Deutschen aus Russland engagiert und hat maßgeblich, auch redaktionell, bei der Entstehung der ersten Literaturblätter vor 25 Jahren mitgewirkt.
Zum 100. Geburtstag von Nora Pfeffer gaben das Bayerische Kulturzentrum der Deutschen aus Russland (Nürnberg) und der Literaturkreis der Deutschen aus Russland e.V. eine Festschrift heraus.
Die Dichterin Nora Pfeffer gehört mit ihrer
poetischen und schriftstellerischen Leistung zu den wichtigsten
russlanddeutschen Autoren der Nachkriegszeit. Jahrzehntelang hat sie die
Entwicklung der deutschen Literatur in der ehemaligen Sowjetunion mitgeprägt –
als Lyrikerin, Übersetzerin, Nachdichterin, Essayistin und Literaturkritikerin.
Pfeffers Werke sind in ca. 15 Einzelbänden erschienen, darunter mehrere
Versbücher für Kinder, Lyriksammlungen und Bücher mit Nachdichtungen. Sie wurde
am 31. Dezember 1919 in Tbilissi/Georgien in einer Lehrerfamilie geboren. Noras
Kindheit endete 1935 abrupt mit der Verhaftung ihrer Eltern. Fünf Kinder, eine
taubstumme Tante und die Großeltern blieben vorerst allein, ein Jahr später
wurde die Mutter aus dem Gefängnis entlassen. Der Vater, ohne Gerichtsverfahren
konterrevolutionärer Tätigkeit bezichtigt, wurde erst nach elf Jahren entlassen
und 1956 rehabilitiert.
Nach Abschluss der deutschen Schule und des
Musiktechnikums am Konservatorium Tbilissi begann Nora Pfeffer ein Studium der
Germanistik und Anglistik, das sie extern am I. Moskauer Staatlichen
Pädagogischen Fremdspracheninstitut fortsetzte. Gleichzeitig unterrichtete sie
die deutsche Sprache am Medizinischen Institut Tbilissi. Weil sie sich
weigerte, von ihrem Vater loszusagen, wurde sie exmatrikuliert und auch aus der
Musikfachschule ausgeschlossen. 1940 verlobte sie sich mit Juri Karalaschwili,
dem Enkel des georgischen Katholikos. Im August 1941 wurde ihr Sohn Rewas
geboren (Er verstarb 1989 mit nur 48 Jahren).
Als am 19. Oktober 1941 die georgischen Deutschen
deportiert wurden, durfte Nora als Ehefrau eines Georgiers in Tbilissi bleiben.
Ihre Mutter und Geschwister verschlug es nach Kasachstan. Auch Noras Mann lag
inzwischen verwundet in einem Lazarett im sibirischen Barnaul.
Im November 1943 wurde auch Nora Pfeffer verhaftet
(zusammen mit noch einigen georgischen Intellektuellen) und von ihrem kleinen
Sohn getrennt. „Ich kam in ein Untersuchungsgefängnis. Ein schmutziger
schwarzer Tisch in einer Einzelzelle. Ein Tonkrug darauf. Ein Becher. Ein
Stuhl. Auf dem schmutzigen Fußboden ein Kübel und ein Besen. Man darf weder
lesen noch schreiben. Ich wollte nicht durchdrehen, wollte meinen Sohn und Mann
wieder in Freiheit umarmen können. Ich brauchte eine Beschäftigung. Sie brach
eine Rute vom Besen ab, setzte sich an den Tisch und begann, die dicke
Lehmschicht Millimeter um Millimeter abzutragen. Tag für Tag, Woche für Woche.
Es stellte sich heraus, dass der Tisch leuchtend gelb war…“, erzählte sie in
einem Interview mit Agnes Gossen.
Es folgen viele Jahre Straflager in Dudinka
(NorilLag). „Tagelanges Reisen in Stolypin-Waggons, mit salzigen Heringen als
einziges Nahrungsmittel, Wasser zum Trinken wurde nicht verabreicht. Ich kam
nach Dudinka in ein Lager, wo man bei 50 Grad minus in gewöhnlichen Zelten
untergebracht wurde. Chronischer Skorbut mit blutendem Zahnfleisch. Holzfällen
im Wald, wo man immer wieder auf Leichen von Häftlingen stieß, die auf der
Flucht erschossen wurden oder völlig erschöpft zusammengebrochen waren“, ist im
Interview nachzulesen. Nach zehn Jahren Straflager kam sie in die Verbannung
nach Nordkasachstan.