Vertriebenenausweis: Ein Meilenstein auf dem Weg zur Wiedergutmachung
Hinter diesem äußerlich so unauffälligen Dokument verbirgt sich eine dramatische Geschichte von Millionen von Menschen – unter ihnen auch die von Hunderttausenden einstigen Einwohnern der UdSSR sowie ihrer Nachfolgestaaten.
Emilie Hasert wurde 1925 in einer deutschen Siedlung in Georgien geboren. 1941 wurde sie nach Kasachstan deportiert und musste anschließend Zwangsarbeit leisten. Nach 1955 zog sie nach Südkasachstan und durfte im April 1978 mit ihrem Mann nach Westdeutschland ausreisen. Der Ausweis für Vertriebene und Flüchtlinge diente als Grundlage für die Entscheidung zur Verleihung der deutschen Staatsangehörigkeit. Ausweis A wurde dem als Aussiedler anerkannten Antragsteller ausgehändigt; Ausweis B den andersethnischen Familienangehörigen.
Einige Bemerkungen zur Vorgeschichte dieses Dokuments: Die Nachkriegszeit in der seit 1949 existierenden Bundesrepublik Deutschland wurde maßgeblich von der Kriegsfolgenbewältigung geprägt. Hierzu zählte u. a. die Integration von Millionen vertriebenen Reichs- und sog. „Volksdeutschen“. Im Grundgesetz aus dem Jahr 1949 kam diese Problematik in Form von Paragraph 116 (Abs. 1) zum Ausdruck:
„(1) Deutscher im Sinne dieses Grundgesetzes ist vorbehaltlich anderweitiger gesetzlicher Regelung, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebiete des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 Aufnahme gefunden hat.“
Somit trug das Grundgesetz u. a. dem Umstand Rechnung, dass auch nach Kriegsende in der UdSSR und in den sich im sowjetischen Macht- und Einflussbereich befindenden Staaten Menschen „deutscher Volkszugehörigkeit“ nicht als gleichberechtigte Bürger akzeptiert wurden und die Regierung und Verwaltung in diesen Staaten weiterhin praktizierten, die Vertreter der deutschen Minderheit als besitzlose und billige Arbeitskräfte, als Personen minderen Rechts, in ihren Ländern festzuhalten.
Das Umsetzen dieser Festlegung obliegt in erster Linie dem Bundesvertriebenen- und Flüchtlingsgesetz (BVFG) aus dem Jahr 1953, das – neben solchen Rechtsakten wie Lastenausgleichs- oder Fremdrentengesetz – den Kern des sog. „Kriegsfolgenrechts“ bildet. Es schafft einen verwaltungstechnischen Rahmen, wie die Wiedergutmachungs- bzw. Kompensationsleistung der bundesdeutschen Gesellschaft den von dem Kriegsfolgenschicksal betroffenen Menschen zu erbringen ist. Diese Verpflichtung, eine staatsrechtliche, soziale, moralische und nicht zuletzt die finanzielle Entschädigung für das erlittene Unrecht zu leisten, betraf insbesondere die deutsche Minderheit in der Sowjetunion, die am schwersten unter den Folgen der aggressiven NS-Kriegs- und Eroberungspolitik leiden musste.
Die Aussiedlerfrage ist demnach aus den direkten historischen und politischen Verpflichtungen des Nachkriegsdeutschlands entstanden, das als Rechtsnachfolger des Dritten Reiches ihren Teil der Verantwortung für die bedrängte Lage der deutschen Minderheiten in osteuropäischen Staaten übernommen hat. Das BVFG definierte ursprünglich als Aussiedler diejenige Person deutscher Herkunft, die:
„[…] (2).3 nach Abschluß der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen die zur Zeit unter fremden Verwaltung stehenden deutschen Ostgebiete, Danzig, Estland, Lettland, Litauen, die Sowjetunion, Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Jugoslawien oder Albanien verlassen hat oder verläßt, es sei denn, daß er erst nach dem 8. Mai 1945 einen Wohnsitz in diesen Gebieten begründet hat (Aussiedler).“
[Die Urfassung des Gesetzes finden Sie HIER]
Demzufolge entstand seit 1953 (faktisch schon seit 1950) die gesetzliche Konstruktion eines Aussiedlers: Er wurde rechtlich den Vertriebenen gleichgestellt. Sofern diese Menschen nach Westdeutschland gelangten und in den Geltungsbereich des Grundgesetzes kamen, hatten sie Anspruch auf die deutsche Staatsangehörigkeit mit all den dadurch verbundenen Rechten und Pflichten. Eine grundlegende Änderung in dieser Angelegenheit traf mit dem Kriegsfolgenbereinigungsgesetz vom 21. Dezember 1992 in Kraft. Seither bekamen die Betroffenen, denen der Status eines Spätaussiedlers verliehen wurde, anstelle eines Vertriebenenausweises eine Bescheinigung.
Nachfolgend zur genannten Problematik einige weiterführende Publikationen:
Viktor Krieger: Die erzwungene Rückkehr in die historische Heimat: Etappen einer folgenschweren Ablösung, in: Heimatbuch der Deutschen aus Russland 2021. Stuttgart 2021, S. 221-240 (HIER aufrufbar).
Michael Bommes: Migration und Lebenslauf: Aussiedler im nationalen Wohlfahrtsstaat, in: Sozialwissenschaften und Berufspraxis 23 (2000), 1, S. 9-28, v. a. ab S. 16 (HIER aufrufbar).
Aussiedler- und Minderheitenpolitik in Deutschland: Bilanz und Perspektiven. Hg. von Christoph Bergner und Matthias Weber. München 2009.
Hier v. a. die Stellungnahmen der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel, des Innenministers Wolfgang Schäuble sowie des Aussiedlerbeauftragten der Bundesregierung, Christoph Bergner (HIER aufrufbar) sowie u. a. der Beitrag von Jürgen Hensen: Zur Geschichte der Aussiedler- und Spätaussiedleraufnahme, S. 49-61 (HIER aufrufbar).