Ein Wahlkampf-Flugblatt aus dem Jahr 1937

Rubrik: Dokument des Monats

Anhand dieses interessanten Dokuments, eines Wahlflugblatts aus dem Jahr 1937, möchten wir auf die ersten Wahlen in den Obersten Sowjet der UdSSR näher eingehen. Nach der sowjetischen Verfassung von 1936 stellte diese Institution das höchste politische Organ der vermeintlichen Volksherrschaft dar. Die Wahl fand nach formalen demokratischen Prinzipen statt: auf der Grundlage eines allgemeinen, direkten und gleichberechtigten Wahlrechts in geheimer Abstimmung. In dem Flugblatt wird der Deputiertenkandidat Friedrich Scherer (1896 – ?) vorgestellt, der langjährige Vorsitzende eines der erfolgreichsten landwirtschaftlichen Betriebe in der wolgadeutschen autonomen Republik, der Woroschilow-Kolchose im Dorf Paulskoje, Kanton Marxstadt:

Wahlflugblatt, 1937 (c) GARF, Moskau

Mit einem Bevölkerungsanteil von 60,4% durften die Wolgadeutschen 11 Abgeordnetenmandate, d.h. die größtmögliche Anzahl der nach der Sowjetverfassung einer autonomen Republik zustehenden Sitze im Nationalitätensowjet (bzw. -rat), und zwei weitere Abgeordnetenmandate im Unionssowjet des Obersten Sowjets der UdSSR für sich beanspruchen. Da die Deutschen der sogenannten „Titularnationalität“ der autonomen Republik an der Wolga angehörten, wurden bei der ersten Wahl in den Obersten Sowjet insgesamt neun Abgeordnete aus ihren Reihen gewählt. Unter anderem folgende Personen:

  • Adolf Dehning (1907–1946), damals bekannter Stoß- und Stachanowarbeiter, Mähdrescherfahrer aus Mariental, von 1938 bis 1941 Vorsitzender des Vollzugskomitees desselben Kantons;
  • Anna Grünemeier (1907 – ?), Mathematiklehrerin und Leiterin einer Musterschule im Kanton Eckheim, u. a. „Dorfpropagandistin“. Sie war eine Absolventin der Deutschen Pädagogischen Hochschule von 1935 und galt in der Gegend u. a. als Beispiel für eine „freie deutsche Frau“.
  • Karl Göbel (1905 – nach 1946), Stoßarbeiter und Schichtmeister einer Textilfabrik. Einige Monate nach der besagten Abgeordnetenwahl wurde er zum Direktor der recht großen Karl-Liebknecht-Weberei in der Stadt Balzer befördert;
  • Katharina Grauberger (1916–2006), eine der bekanntesten Melkerinnen der UdSSR der 1930er-Jahre (die 1936 mehr als 7.000 Liter Milch pro Kuh gemolken haben soll);
  • Alexander Heckmann (1908–1994), Minister für Leichtindustrie der autonomen wolgadeutschen Republik, ab Juli 1938 Regierungschef der Republik, darüber hinaus Abgeordneter der Obersten Sowjets der Russländischen Unionsrepublik (RSFSR) und Stellvertreter des Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets der RSFSR;
  • Konrad Hoffmann (1894–1977), Leiter des Dampflokomotivendepots von Pokrowsk (Engels), im Juli 1938 zum sog. Staatsoberhaupt, d. h. zum Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets der ASSR der Wolgadeutschen gewählt.

Soweit ersichtlich, wurde bei dieser Wahl von den Deutschen in der Ukraine, obwohl sie laut der Volkszählung von 1939 mit 392,5 Tsd. Personen rein zahlenmäßig den Deutschen der autonomen Wolgarepublik (366,7 Tsd.) überlegen waren, kein einziger Abgeordneter in die Unionskammern gewählt. Das lag vor allem daran, dass sie mit dem Anteil von gerade einmal 1,3 Prozent an der Gesamtbevölkerung der Ukraine dort eine eher unbedeutende Minderheit darstellten.

Neben ihrer rein formalen Funktion als „Absegner“ der bereits beschlossenen Partei- und Regierungsvorhaben dienten diese Abgeordneten und öffentlichen Personen als deutlicher Beweis dafür, dass die deutschen Sowjetbürgerinnen und -bürger die gleichberechtigte Stellung in der „brüderlichen Familie der Sowjetvölker“ genossen. Das Auftreten der wolgadeutschen Abgeordneten während der Sitzungen des Obersten Sowjets, wo sie selbstbewusst und offen über die Lage in ihrer autonomen Republik redeten und anstehende Probleme und Bedürfnisse artikulierten, bestätigte dies anschaulich. Siehe z. B. den Auftritt von Alexander Heckmann am 28. Mai 1939 in Moskau. Seine Rede wurde in der bekannten überregionalen Zeitung „Iswestija“ in millionenfacher Auflage auf Russisch abgedruckt und erschien auch auf Deutsch in der wolgadeutschen Zeitung „Nachrichten“ am 2. Juni 1939:

Deshalb war es ganz selbstverständlich, dass diese Abgeordneten durch Interventionen bei verschiedenen Unionsbehörden so manche positive Entscheidungen für ihre mehrheitlich deutsche Wählerschaft erwirken konnten. Die feierlich proklamierten Rechte dieser Volksvertreterinnen und -vertreter, durch die sowjetische Verfassung und Gesetzgebung garantiert, wurden nach der gewaltsamen Auflösung der wolgadeutschen Republik selbstverständlich genauso mit Füßen getreten wie die der „einfachen“ deutschen Bevölkerung: Man ließ sie in Richtung Osten deportieren und hob sie zur Zwangsarbeit aus. Gegen Adolf Dehning wurde später (1945) ein Strafprozess im Arbeitslager Wjatlag eingeleitet, Gebiet Swerdlowsk, er verstarb in der Haft. Alexander Heckmann wurde als Zwangsarbeiter 1946 im Bogoslow-Lager, ebenfalls Gebiet Swerdlowsk, zu vier Jahren Freiheitsentzug verurteilt.

Am 27. März 1944 hob das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR die Befugnisse aller Abgeordneten aus der einstigen ASSR der Wolgadeutschen und anderen aufgelösten Autonomien auf.

Nach dem Kriegsausbruch 1941 gab es zwanzig Jahre lang keinen einzigen Vertreter der deutschen Minderheit in diesem Gremium. Anfang der 1960er-Jahre wurde die 1,6 Mio. Menschen zählende deutsche Minderheit lediglich von einem Abgeordneten, Alexander Becker, dem Leiter einer landwirtschaftlichen Arbeitsbrigade aus dem Altai-Gebiet, vertreten. Als Einzelner, dazu noch mehrheitlich von der russischen Wählerschaft ins Amt befördert, versuchte er überhaupt nicht, sich als „deutscher“ Abgeordneter zu positionieren oder irgendein, diese Minderheit betreffendes Problem anzusprechen. Bis Mitte der 1980-Jahre waren immerhin quantitative Verbesserungen zu verzeichnen: Zwei Kolchosvorsitzende, eine Tierzüchterin und eine Traktoristin waren in diesem „obersten Organ der Volksherrschaft“ vertreten und dienten wiederum als Beweis für die gleichberechtigte Stellung der deutschen Bürgerinnen und Bürger im sowjetischen Staat.