Wegen eines Auswanderungswunsches – Einweisung ins Konzentrationslager
Die Auswanderung stellte in der Geschichte der russlanddeutschen Minderheit stets ein bewährtes Mittel dar, den als unzumutbar und bedrückend empfundenen sozioökonomischen oder politischen Bedingungen des Heimatlandes zu entkommen. Während in der Zeit vor 1914 v.a. sozioökonomische Faktoren dominierten, verlagerte sich nach der bolschewistischen Machtergreifung hingegen die Motivation zur Auswanderung in den politisch-gesellschaftlichen Bereich. Die kommunistischen Machthaber, die großen Wert auf außenpolitische Geltung legten und eine welthistorische Überlegenheit der neuen gesellschaftlichen Ordnung proklamierten, betrachteten ein Auswanderungs- bzw. Ausreisebegehren von Anfang an als besonders schwerwiegende antisowjetische Tat. Bis Mitte der 1980er Jahre wurden derartige Bestrebungen nicht nur mit propagandistischen, sondern nicht selten auch mit strafrechtlichen Mitteln bekämpft.
Eine besonders starke Auswanderungsbewegung entstand in den deutschen Siedlungen der UdSSR Ende der 1920er Jahre als Protest gegen die Zwangskollektivierung, die Verbannung von wohlhabenden Bauern – der sog. Kulaken – sowie die Verfolgung der Religion. Einer von vielen öffentlichen und v.a. geheimen Prozessen dieser Jahre stellt die Strafsache gegen sechs Personen aus der Siedlung Zebrikowo („Hoffnungstal“), die sich im Bezirk (ab September 1930: Gebiet) Odessa befand, dar:
- Schirozki, Wadim (geb. 1894), Rechtsanwalt;
- Krause, Karl (1877), Privathandwerker, ehem. Gutsbesitzer;
- Krause, Eduard (1882), beschäftigungslos, Sohn eines Gutsbesitzers;
- Krause, Georg (1911), Privathandwerker, Sohn von K. Krause;
- Keller, Andrej (1872), Privatbauer, ehem. Gutsbesitzer;
- Hick, Wilhelm (1887), Sohn eines wohlhabenden Bauern, Inhaber eines PKWs, Privatbesitzer.
Mit Ausnahme von W. Schirozki waren sie alle Vertreter der deutschen Minderheit und wurden Ende Oktober 1929 verhaftet. Ihr „Verbrechen“ bestand v.a. darin, dass sie eine „systematische antisowjetische Agitation“ über die „Notwendigkeit der Emigration aus der UdSSR nach Kanada“ betrieben haben und behaupteten, dass sie, die Kolonisten, „nur außerhalb der UdSSR ein menschenwürdiges Leben führen können.“
Sie alle wurden nach dem berüchtigten Paragraphen 58 für politische Delikte (§58 auf Russisch und §58 auf Deutsch) am 29. Januar 1930 zur Einweisung ins Konzentrationslager verurteilt. Das Urteil hat etwa kein reguläres Gericht, sondern ein Gremium der Geheimpolizei „OGPU“ ohne jegliche Gerichtsverhandlungen zügig und konsequent ohne Rücksichtnahme verhängt.
Kommentierte Übersetzung des Beschlusses des Kollegiums der OGPU vom 29. Januar 1930 vom Russischen ins Deutsche:
Konzentrationslager – die übliche russische Abkürzung lautet „Konzlager“ – existierten in Sowjetrussland offiziell seit Mitte 1918 und waren als Orte der Isolierung bzw. Strafverbüßung für politische Gegner und Kriminelle bestimmt. Neben dem weit verbreiteten sowjetischen Euphemismus „Besserungsarbeitslager“ (russ: isprawitelno-trudowoi lager, ITL[1]) war der Begriff „Konzlager“ sowohl im internen Schriftverkehr als auch im öffentlichen Bereich bis Anfang der 1930er Jahre weit verbreitet. Wohl wegen der aktiven Benutzung des Terminus sowie der Institution im NS-Deutschland verschwand dieses Wort nach 1933 fast vollständig aus dem Sprachgebrauch, was die innensowjetischen Straf- und Arbeitslager betrifft.
1958 lehnte die Staatsanwaltschaft des Gebietes Odessa bezeichnenderweise die Rehabilitierung von Wadim Schirozki und seinen Leidensgenossen mit der Begründung ab, dass „im Zuge der Überprüfung zusätzliche Erkenntnisse gewonnen wurden, die die antisowjetische Tätigkeit von Keller A.J. [u.a.] beweisen, wofür man sie 1930 zurecht verurteilt hat.“ Erst nach 60 Jahren, im Dezember 1989, erfolgte die offizielle Aufhebung dieses sowjetischen Unrechtsurteils.
[1] Ausführlich hierzu: Das System der Besserungsarbeitslager in der UdSSR. 1923 – 1960. Berlin, 2006: http://www.gulag.memorial.de/pdf/system_besserungsarbeitslager.pdf