Wie und wann entstand der Begriff „Schwarzmeerdeutsche“?

Seit ihrer Einwanderung in die Schwarzmeergebiete des Russischen Reiches Ende des 18. Jahrhunderts bezeichneten sich die deutschen Siedler als „südrussische Kolonisten“, was vor allem ihre ständische Verortung verriet. Vom russischen Staat wurden diese Siedler seit ihrer Ankunft in einen besonderen Stand erhoben:

„Als Kolonisten werden nur solche Ausländer anerkannt, die sich auf Kron-, Privat- oder auf als Eigentum erworbenen Ländereien als Landwirte oder als in der Landwirtschaft nötige Handwerker ansiedeln; keineswegs dürfen ihnen Ausländer zugezählt werden, die sich, einzeln oder mit Familie, zwecks Handel und Gewerbe oder zum Erwerb eines städtischen Standes niederlassen. Hinweis: Die Einladung von Ausländern zur Ansiedlung wurde 1819 endgültig eingestellt, doch wurde nachträglich zu verschiedenen Zeiten die Übersiedlung von Ausländern nach Russland genehmigt.“

(Aus dem „Gesetz über die Kolonien der Ausländer im Russischen Reich“, dem sogenannten  „Kolonialkodex“, 1857).

Eine Bescheinigung des „Verbandes der deutschen Kolonisten im Schwarzmeergebiet“, die dem bessarabischen Studenten Cristian Sawall am 14. September 1918 für sein weiteres Studium in Dorpat ausgestellt wurde.  ©Estnisches Nationalarchiv.

Die gemeinsamen Erfahrungen der Unterdrückung und Verfolgung im Ersten Weltkrieg führten dazu, dass zum ersten Mal in ihrer Geschichte ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und des gemeinsamen Schicksals aller bis dahin kaum miteinander verbundenen Gruppen der deutschen Siedler im Russländischen Staat entstanden ist. Nach der bürgerlichen Revolution im Februar 1917 und dem Sturz der Monarchie kam es einige Wochen später zur Gründung einer Reihe von Selbsthilfe- und Vertretungsorganisationen, darunter auch zweier Dachverbände: 

  • Allrussländischer Verband der russischen Deutschen (Deutschrussen) [Всероссийский Союз русских немцев] in Odessa;
  • Allrussländischer Verband russischer Bürger deutscher Nationalität [Всероссийский Союз русских граждан немецкой национальности] in Moskau.

In Odessa konstituierte sich in gleicher Zeit das „Südrussische Zentralkomitee des Allrussländischen Verbandes der russischen Deutschen (zeitweise mit dem Zusatz: und Mennoniten)“[Южнорусский Центральный Комитет Всероссийского Союза русских немцев (и меннонитов)], das die Verbandszeitung auf Russisch und Deutsch Еженедельник/Wochenblatt, in Odessa herausgab. Man plädierte zunächst für eine weitgehende Selbstverwaltung und kulturelle Autonomie im Rahmen eines demokratischen Rechtstaates Russland.

Allerdings übertraf die politische Dynamik alle bis dahin vorhandenen Vorstellungen:  Am 25. Oktober (nach dem Julianischen Kalender, alter Stil) bzw. am 7. November (nach Gregorianischem Kalender, neuer Stil) 1917 ergriffen die Bolschewiki die Macht und begannen, mit Gewalt und Terror ihre politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ziele durchzusetzen. Der russische Bürgerkrieg brach aus. Eine Reihe von Völkern antwortete darauf mit staatlicher Unabhängigkeit und Loslösung von Russland, darunter auch die Ukraine, die am 9. (22.) Januar 1918 ihre Selbständigkeit erklärte. Das Deutsche Reich und seine Verbündeten – und später eine Reihe weiterer Länder – erkannten diesen ersten ukrainischen Nationalstaat, die „Volksrepublik Ukraine“, an. Dagegen lehnten die USA, Großbritannien, Frankreich und andere Staaten der Entente eine unabhängige Ukraine ab. In den Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk hat neben Russland (am 3. März 1918) die Ukraine einen getrennten Vertrag am 9. Februar 1918 unterzeichnet.

Angesichts der neuen Realität erschienen sowohl „russische Deutsche“ als auch „Südrussland“ als gesellschaftspolitische Begriffe obsolet. Es sollten neue, den Tatsachen einer unabhängigen Ukraine entsprechende (Selbst)Betitelungen entstehen. Seit etwa April 1918 fungierte an der Stelle der alten Namensgebung der „Verband der deutschen Kolonisten im Schwarzmeergebiet“ [Союз немцев-колонистов Черноморского края] mit Sitz in Odessa. Der neue Name spiegelte neben dem nationalen Selbstverständnis  (Deutsche) gleichwohl die Bindungskraft des einstigen Standes (Kolonisten) und des wieder vorherrschenden Regionalbezugs (Schwarzmeergebiet) wider.

Neben seinem Hauptorgan in deutscher Sprache, dem „Vereinsboten“, gab die Organisation auch eine russischsprachige Wochenbeilage „Родная степь/Heimatsteppe“ heraus. Diese sollte „die nichtdeutsche Bevölkerung, die in guter Nachbarschaft zu den deutschen Kolonisten lebt, mit den Zielen und Aufgaben vertraut zu machen, welche die Kolonisten durch den Zusammenschluss in einem „Verein der deutschen Kolonisten des Schwarzmeergebiets“ verfolgen“.

Der Verband existierte bis zur endgültigen Etablierung der Sowjetmacht in Odessa im Februar 1920. Die Wirkung ähnlich positionierter nationalen Vereinigungen („Verein der Schwarzmeerkolonisten“ in Stuttgart oder „Verband studierender Schwarzmeerdeutscher“ in Leipzig) war seither nur im Ausland möglich.