Zum Umgang mit der Hinterlassenschaft des Stalinismus in Kasachstan
Heute, am 14. April 2023, jährt sich zum 30. Mal die Verabschiedung des Gesetzes der Republik Kasachstan „Über die Rehabilitierung von Opfern politischer Massenrepressalien“. Den entsprechenden Text in russischer Sprache finden Sie HIER.
Es war ein Teil der Wiedergutmachungspolitik gegenüber den unschuldigen Opfern der staatlichen Willkür. Damit versprach der junge Staat eine Wiedergutmachung nicht nur für die direkt betroffenen Personen, sondern auch für ihre Kinder und Enkelkinder – kurzum: für die Nachwelt. Weniger in finanzieller, sondern vielmehr in moralischer und psychologischer Hinsicht. Hunderttausende Personen erhielten seither die Bestätigung, dass sie zu Stalinzeit zu Unrecht verfolgt wurden.
Mit der Zeit entstand der gesellschaftliche Bedarf, die Unzulänglichkeiten des Gesetzes zu beheben und einen freieren Zugang zu den entsprechenden Akten zu bekommen. Aus diesem Grund initiierte der kasachische Präsident, Kassym-Schomart Tokajew, im Erlass vom 24. November 2020 die Einrichtung einer staatlichen Kommission für die vollständige Rehabilitierung der Opfer politischer Repressionen. Den Text in russischer Sprache finden Sie HIER.
Ihre Hauptaufgabe besteht darin, allen Gruppen von Bürgern, die unter den Repressionen gelitten hatten, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Vor allem denjenigen, die von dem bestehenden Gesetz nicht berücksichtigt wurden, so bspw. den Hungeropfern, den enteigneten Bauern und Nomaden, den Kämpfern für die nationale Sache nach 1955 u.a. Eine der wichtigsten Aufgaben der Kommission besteht darin, die auf vielen Repressionsakten noch lastende Geheimhaltung zu überprüfen und einen möglichst freien Zugang zu den Materialien zu ermöglichen.
Aus dem Anlass des 30-jährigen Bestehens des Rehabilitierungsgesetzes und der Tätigkeit der Staatskommission veranstaltete das Kasachisch-Deutsche Zentrum in der Hauptstadt Astana am 31. März einen sog. „Runden Tisch“. Hier versammelten sich Mitglieder des Parlaments und der gesellschaftlichen Organisation „Assemblee des Volkes Kasachstans“, die Vertreter der deutschen Minderheit und Wissenschaftler aus mehreren Ländern, darunter Dr. Viktor Krieger vom BKDR.
Das Video mit deutschen Untertiteln zur hybriden Veranstaltung finden Sie unter:
Es gab eine Reihe interessanter Vorträge, die unter anderem die Tätigkeit der staatlichen Kommission beleuchteten. Man erfuhr zudem, dass es vorgesehen ist, die archivierten Untersuchungsakten der verurteilten Personen und die Personenakten der Sondersiedler aus den Gebietsverwaltungen des Nationalen Sicherheitskomitees (Nachfolgeorganisation des einstigen KGB) und des Innenministeriums an einem Ort, nämlich im Archiv des Präsidenten der Republik Kasachstan in Almaty, zu konzentrieren.
Teilnahme von Dr. Krieger an Fachbesprechung
Unser wissenschaftlicher Mitarbeiter Dr. Viktor Krieger nahm an der Fachbesprechung teil und referierte über die Bedeutung von Materialien aus den Archiven des einstigen KGB für das kulturelle Erbe der deutschen Minderheit. Dabei verwies er auf die liberale Gesetzgebung in der Ukrainischen Republik, die allen Personen den freien Zugang zu den Hinterlassenschaften dieser Organisation bis 1991 garantiert, was zu einer engen Zusammenarbeit mit den ukrainischen Archiven bis zum russischen Angriff im Februar 2022 führte. Bekanntlich wurden fast alle deutschsprachigen Schriftsteller und Zeitungsredakteure sowie weitere Kulturschaffende in der Ukraine in den 1930er Jahren verhaftet und entweder erschossen oder zu langjährigen Lagerstrafen verurteilt. Ihre Untersuchungsakten enthalten wichtige Selbstzeugnisse und Hinweise auf bisweilen unbekannte Seiten des Kulturlebens der deutschen Minderheit in der Zwischenkriegszeit. So z. B. der Fall des Schriftstellers David Schellenberg.
Dr. Krieger äußerte die Hoffnung, dass der Zugang zu den entsprechenden Unterlagen für wissenschaftliche Zwecke nun gewährleistet wird, da bekanntlich viele deutsche Intellektuelle und Personen des öffentlichen Lebens in Lagern auf dem Territorium Kasachstans ihre Strafe abbüßen mussten oder seit Ende der 1920er Jahren hierher verbannt wurden.