Politische Strafprozesse in der „liberalen“ Chruschtschow-Ära: Der Fall Wladimir Hoffmann (1957)

Das Dokument des Monats November 2021 spiegelt eines der wichtigsten Kapitel der Nachkriegsgeschichte der deutschen Minderheit in der UdSSR wider: Die Bewegung zur Ausreise in der Bundesrepublik Deutschland zum Zwecke einer „ständigen Wohnsitznahme“ (vyesd na postojannoje mesto shitelstwa), so im sperrigen Amtsrussisch.

Erste Seite des Beschlusses der Staatsanwaltschaft der RSFSR, Abteilung für Aufsicht, über Ermittlungen in den Organen der Staatssicherheit in der Strafsache von Wladimir Hoffmann, 12. Juni 1958.

Diese Bestrebungen gingen vornehmlich aus den Kreisen der sogenannten „Administrativumsiedler“ und ihrer Nachkommen aus. Es handelte sich vor allem um diejenigen Schwarzmeerdeutsche, die 1941 unter die reichsdeutsche bzw. rumänische Besatzung geraten und 1943-44 in das Warthegau oder das Altreich umgesiedelt worden waren. Fast alle von ihnen nahmen zu dieser Zeit die reichsdeutsche Staatsbürgerschaft an. Durch Verfolgung und Terrorisierung in der Zwischenkriegszeit verschreckt, aber vor allem wegen der massenhaften Deportation und Entrechtung seit dem Kriegsausbruch alarmiert, ließ man diesen „Volksdeutschen“ (NS-Jargon) praktisch keine andere Wahl. Die Sowjetunion hat ihrerseits die Einbürgerungen aus der Kriegszeit nie akzeptiert und den Großteil dieser Menschen, insgesamt mehr als 200.000, meist gegen ihren Willen „repatriiert“. Die Bundesrepublik dagegen erkannte im Februar 1955 diesen Personenkreis als „Deutsche im Sinne des Grundgesetzes“ an und schuf damit rechtliche Voraussetzungen zu ihrer geordneten Übersiedlung und sozialen Eingliederung.

Die zurückgebrachten Repatrianten galten als Personen minderen Rechts: Man verlieh ihnen den Status eines Sondersiedlers und stellte sie unter Kommandanturaufsicht. Sie wurden in unwirtlichen Gegenden im Hohen Norden und in asiatischen Gebieten der UdSSR angesiedelt und bei schwerster körperlicher Arbeit (beim Holzschlag, im Bergbau, auf Baustellen, in Industriebetrieben, auf Baumwollplantagen etc.) eingesetzt. Auch nach der Aufhebung der Sonderkommandanturen Anfang 1956 mussten sie weiterhin zahlreiche Rechtseinschränkungen und Diskriminierungen über sich ergehen lassen. Daher war es nicht verwunderlich, dass sich bis Ende 1957 in der Deutschen Botschaft Anträge von über 170.000 einstigen Administrativumsiedlern sammelten, die vorgehabt haben, in die Bundesrepublik auszureisen.

Die sowjetische Staatssicherheit schickte aus verschiedenen Regionen alarmierende Nachrichten über die aufgetretenen „schädlichen Emigrationsaktivitäten“. Die Parteiführung forderte von allen Massenorganisationen eine verstärkte „politisch-erzieherische“ Arbeit unter den einstigen deutschen Sondersiedlern. Auch in der so hoch gepriesenen liberalen Chruschtschowschen bzw. „Tauwetterperiode“ ließ man es nicht nur bei der propagandistisch-ideologischen Einwirkung bewenden, sondern griff, ohne zu zögern, zu bewährten strafrechtlichen Mitteln, um potentielle Emigranten, aktive Gläubige oder Regimekritiker einzuschüchtern. Und das ausgerechnet während der Zeit, als im Zuge der Entstalinisierung zahlreiche Urteile politischer Strafprozesse aufgehoben und die dort involvierten Personen rehabilitiert wurden.

Stellvertretend für viele ähnliche Fälle kann das Verfahren gegen Wladimir Hoffmann aus dem Gebiet Archangelsk im russischen Nordwesten herangezogen werden, der am 11. Dezember 1957 vom Gebietsgericht nach dem berüchtigten Artikel 58 des Strafgesetzbuches der Russländischen Unionsrepublik zu sechs Jahren Straflager verurteilt wurde.

Beschluss der Staatsanwaltschaft der RSFSR, Abteilung für Aufsicht, über Ermittlungen in den Organen der Staatssicherheit in der Strafsache von Wladimir Hoffmann, 12. Juni 1958:

Wladimir Hoffmann wurde 1936 im Gebiet Dnjepropetrowsk/Ukraine geboren und befand sich am Kriegsende mit seinen Eltern in Deutschland. Dem Vater ist es gelungen, im Westen unterzutauchen, während sein Sohn mit der Mutter und anderen Familienmitgliedern in die Sowjetunion zurückgeführt und im Gebiet Archangelsk, in der Nähe des Polarkreises, zwangsangesiedelt wurden. Die örtlichen deutschen Sondersiedler waren größtenteils im Archangelsker Zellstoff- und Papierkombinat beschäftigt. Hoffmann durfte nach Abschluss der Siebenjahresschule 1952 seinen Bildungsweg nicht wie gewünscht an einem Technikum fortsetzen, sondern musste einen „Arbeiterberuf“ (Elektromonteur) erlernen (nach Abschluss einer Siebenjahresschule konnte ein Technikum besucht werden, das „mittlere Spezialisten“ ausbildete. Nur die zehnjährige Mittelschule berechtigte zum Hochschulstudium).

Das schwerwiegende „Verbrechen“ des jungen Mannes bestand darin, dass er eine lockere Gruppe von Schicksalsgenossen unter dem Namen „Stimme der Nation“ gebildet hatte, um das gemeinsame Ziel zu verfolgen, nach Westdeutschland auszureisen. Zu diesem Zweck besuchte er im August 1956 und im März 1957 einige Male die Botschaft der Bundesrepublik in Moskau und überreichte den zuständigen Mitarbeitern Ausreiseanträge – in der Anklage als „Fragebogen“ genannt – die von den Landsleuten in der Arbeitssiedlung Woroschilowskoje (heute Stadt Nowodwinsk, 30 km vom Gebietszentrum Archangelsk entfernt) ausgefüllt wurden. Zusätzlich verfasste er mit seinen Mitstreitern einige Stellungnahmen, in denen er den Publikationen der sowjetischen Presse entgegentrat, die das Problem der repatriierten Deutschen leugneten.

Erklärung des Vorsitzenden des Exekutivkomitees der Verbände des Roten Kreuzes und des Roten Halbmondes der UdSSR (Prof. Georgi Miterew) zur Repatriierungsfrage: „Prawda“, Nr. 52 vom 21. Februar 1957, auf Russisch:

Übersetzung der „Erklärung“ ins Deutsche:

Offener Brief der deutschen Bauern aus der Malenkow-Kolchose in der Region Altai in Bezug auf das Repatriierungsproblem, der ursprünglich in der Zentralzeitung der RSFSR „Sowetskaja Rossija“ (Moskau) am 12. März 1957 auf Russisch erschien. Hier die deutsche Übersetzung aus der Zeitung „Arbeit“ (Barnaul), Nr. 22 vom 16. März 1957:

[Zur Gründung, dem Bestehen und der Auflösung der Zeitung gelangen Sie HIER zu unserem Beitrag]

Schließlich fertigte er im April 1957 zusammen mit anderen Deutschen insgesamt zehn Flugblätter gleichen Inhalts an (siehe den Text des obigen Beschlusses der Staatsanwaltschaft) und verteilte sie in seiner Ortschaft. In den Sommermonaten sollten weitere Flugblätteraktionen folgen.

Daraufhin wurde er am 15. August 1957 verhaftet – die Ermittlungen übernahm der KGB. Am 11. Dezember 1957 wurde er vom Archangelsker Gebietsgericht aufgrund antisowjetischer und subversiver Tätigkeit zu sechs Jahren Lagerhaft verurteilt. Seine Klagen und Beschwerden an den Ersten Sekretär des ZK der KPdSU (Nikita Chruschtschow) sowie an den Generalstaatsanwalt der UdSSR in den Jahren 1958–1961 um Begnadigung oder Fristverkürzung des Freiheitentzugs blieben erfolglos.

ZUSATZMATERIAL

Stimmen der „empörten“ Sowjetdeutschen: „Arbeit“, Nr. 28 vom 6. April 1957:

Antwort der deutschen Bauern aus der besagten Malenkow-Kolchose, Region Altai, auf einen Artikel in der Frankfurter Allgemeine. Ursprünglich veröffentlicht in der Zeitung „Sowetskaja Rossija“ vom 13. April 1957. Hier in deutscher Übersetzung: „Arbeit“, Nr. 31 vom 17. April 1957:

Einige Mitteilungen in der Zentralzeitung für Sowjetdeutsche, „Neues Leben“ (Moskau) über den Verlauf der zwischenstaatlichen Verhandlungen in den Repatriierungsangelegenheiten:

Zu den Verhandlungen zwischen der UdSSR und der Bundesrepublik Deutschland: „Neus Leben“ (NL), Nr. 51 vom 27. August 1957:

Bundesregierung vereitelt sowjetisch-deutsche Verhandlungen: NL, Nr. 55 vom 5. September 1957:

Artikel über „gedungene Agenten westdeutscher Propaganda“, die in der UdSSR die Deutschen zur Übersiedlung in die BRD verlocken wollten:

Lockvögel: NL, Nr. 67 vom 1957 3. Oktober 1957:

Das Strafverfahren gegen Wladimir Hoffmann hat auch der russische Historiker und Menschenrechts-Aktivist Juri Dojkow in seinem Blog behandelt, 25. Juni 2013 (auf Russisch):

https://dojkov.livejournal.com/68478.html

Zur Repatriierungsthematik der 1950er Jahre in den deutsch-sowjetischen Beziehungen siehe z. B.:

Boris Meissner: Die zweiten deutsch-sowjetischen Verhandlungen in Moskau 1957/58, in: Peter Weilemann, Hans Jürgen Küsters und Günter Buchstab (Hrsg.): Macht und Zeitkritik. Festschrift für Hans-Peter Schwarz zum 65. Geburtstag. Paderborn etc. 1999, S. 255-268, Online:

Digi20 | Band | Macht und Zeitkritik / Weilemann, Peter R. (digitale-sammlungen.de)