Maria Schmidt: erste wolgadeutsche Akademikerin mit einem Doktortitel

Dokument des Monats

Ein ordentliches Studium bzw. ein Hochschulabschluss waren für Frauen im Russischen Reich bis zur bürgerlichen Februarrevolution im Jahre 1917 praktisch unzugänglich. Es gab zwar einige nur für Frauen bestimmte Hochschulen und sogenannte „höhere Kurse“, doch deren Absolventinnen verfügten nach dem Abschluss über keine vergleichbaren Rechte wie ihre männlichen Kollegen. Darüber hinaus war die Auswahl der Studienfächer sehr begrenzt. Deshalb gingen viele russische Bürgerinnen zum Studium ins Ausland, wo sie mit wenigen Einschränkungen rechneten. Die Emanzipationsbewegung im Bildungsbereich erreichte nicht nur Russinnen, sondern auch die deutschen Siedlerinnen in Russland.

Kopie der französischen Promotionsurkunde („Doktordiplom“) und die russische Übersetzung, beglaubigt vom Notar A. Polubojarinow am 3. Oktober 1915 in Saratow; übersetzt von Olga Sobolewa. Das vollständige Dokument s. unten.

Bisher ist noch wenig über die Anfänge der akademischen Ausbildung von Frauen unter den deutschen Siedlern bekannt. Allerdings besuchten Dutzende sogenannter „Kolonistentöchter“ – verstärkt ab Ende des 19. Jahrhunderts – russische Mädchengymnasien und andere Arten höherer Schulen, deren Abschluss (Reifezeugnis) als Berechtigung zum Studium galt. Eine von ihnen war Maria Schmidt, die bezeichnenderweise nicht in Deutschland – was aus sprachlichen und anderen Gründen nahegelegen hätte – sondern in Frankreich an der Universität Montpellier Naturwissenschaften und Medizin studierte und im Anschluss am 29. Juli 1915 erfolgreich ihre Dissertation verteidigte.

Weiterlesen

„Loyalität, Vertrauen, Diskriminierungserfahrung“

Die Deutschen im Russländischen Reich, in der Sowjetunion, den Nachfolgestaaten und nach der Übersiedlung nach Deutschland und ihr Verhältnis zum Staat

Vom 18. bis zum 20. Oktober 2024 fand eine weitere wissenschaftliche Konferenz in den Räumlichkeiten des Bayerischen Kulturzentrums der Deutschen aus Russland (BKDR) in Nürnberg statt. Initiiert wurde diese vom BKDR und in Kooperation mit der Wissenschaftlichen Kommission für die Deutschen in Russland und in der GUS (WKDR) unter ihrem Vorsitzenden, Prof. Dr. Dietmar Neutatz von der Freiburger Universität, durchgeführt. An der hybriden Konferenz haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Deutschland, Russland, Kasachstan, Österreich, der Ukraine und Kanada teilgenommen.

Die Geschichte der Deutschen im Russländischen Reich, in der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten bot im Verlauf von zwei Jahrhunderten vielfältige Konstellationen, in denen sich die Frage nach dem Verhältnis zum Staat einerseits und den Erfahrungen mit der Staatsmacht andererseits stellte. Loyalität, Vertrauen und Diskriminierungserfahrung sind in diesem Kontext hilfreiche Kategorien, die in der neueren Forschung zu multiethnischen Imperien fruchtbar gemacht wurden. Nachstehend ein tiefer Einblick in die Vortragsthemen der entsprechenden Referenten.

Nachstehend finden Sie das Programm der Tagung des BKDR in Kooperation mit dem WKDR:

Weiterlesen

BKDR-Bildungsreise 2024: „Auf deutschen Spuren in Georgien“ (TEIL 2)

Bereits in der vergangenen Woche haben wir exklusiv von der BKDR-Bildungsreise nach Georgien berichtet. Mittlerweile ist die 20-köpfige Reisegruppe unter der Leitung von Waldemar Eisenbraun (Leitung BKDR) und Prof. Dr. Olga Litzenberger (wissenschaftliche Mitarbeiterin) wieder wohlbehalten nach Deutschland zurückgekehrt und um einiges an Fachwissen sowie wundervollen Erinnerungen reicher.

Doch vorher waren die Teilnehmer in Trialeti (ehemals „Alexanderhilf“) und darüber hinaus in der ehemaligen deutschen Siedlung „Elisabethtal“ (heute Assureti) in der Nähe von Tiflis in der georgischen Verwaltungsregion „Niederkartlien“, um deutsche Baudenkmäler und Friedhöfe zu besichtigen. Weitere beeindruckende Reiseziele an den Programmtagen waren unter anderem die Swetizchoweli-Kathedrale sowie das Kloster Dschwari, die zum UNESCO-Welterbe gehören.

Am Tag ohne festgelegte Programmpunkte verständigte sich die Gruppe während der freien Zeit darauf, einen gemeinsamen Ausflug zur Burg Ananuri zu unternehmen, die an der Georgischen Heerstraße, einer Fernstraße in der größten Gebirgskette im Kaukasus, liegt. Die Kaukasiendeutschen selbst kamen weitestgehend in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ins Land.

Der letzte Tag vor der Abreise bestand darin, nach Sartichala, einer ehemaligen Siedlung der Kaukasiendeutschen, zu reisen. Bis 1944 trug der Ort den deutschen Namen „Marienfeld“. Den Abschluss bildete der Besuch eines deutschen Weinbetriebs in Sighnaghi und damit verbunden einer Führung zur Historie des deutschen Weinanbaus sowie anschließender Verkostung.

Weiterlesen

BKDR-Bildungsreise 2024: „Auf deutschen Spuren in Georgien“

Heuer findet zum zweiten Mal in Folge die BKDR-Bildungsreise nach Georgien statt. Dabei konnte die Reisegruppe (20 Personen) unter der Leitung von Waldemar Eisenbraun (Leitung BKDR) und Prof. Dr. Olga Litzenberger (wissenschaftliche Mitarbeiterin) bereits zahlreiche Orte und Denkmäler besuchen, die das kulturelle Erbe der ehemaligen deutschen Siedler nach wie vor in eindrucksvoller Weise präsentieren.

Mehrere deutsche Siedlungen, die im frühen 19. Jahrhundert in Georgien entstanden sind und bis zur Deportation der deutschstämmigen Bevölkerung im Jahre 1941 Bestand hatten, werden bis heute für zukünftige Generationen erhalten. So konnten die Exkursionsteilnehmer schon am ersten Programmtag nach der selbst gestalteten Stadtrundfahrt „Auf deutschen Spuren in Tiflis“ die ehemaligen deutschen Siedlungen „Neu-Tiflis“ und „Alexandersdorf“ besuchen. Im Anschluss daran erfolgte die Besichtigung des Hauptsitzes der Assoziation der Deutschen Georgiens „Einung“ mit einer Präsentation des Vorstands sowie einem Austausch mit den hiesigen Projektleitern. Den letzten Tagespunkt bildete der Besuch der evangelisch-lutherischen Versöhnungskirche.

Zusätzlich konnten im ersten Teil der noch stattfindenden Bildungsreise weitere Fahrten in ehemalige deutsche Siedlungen unternommen werden, wie bspw. nach Tamarissi (ehemals Traubenberg) sowie Bolnisi (ehemals Katharinenfeld), wo auch heute noch Weinbetriebe nach deutscher Tradition weiterhin tätig sind. Im Zuge dessen wurde ebenfalls das Walker-Haus-Museum besichtigt. Gleichermaßen war ein Besuch des Nationalmuseums Teil der umfangreichen und vielseitigen Programmpunkte. Einige Teilnehmer der Bildungsreise konnten sogar vor dem Haus ihrer Vorfahren in Bolnisi (ehem. Katharinenfeld) ein Foto aufnehmen.

Weiterlesen

Die Lage der Ev.-Luth. Kirche in der UdSSR im Jahre 1934

Dokument des Monats

Zu Beginn der 1930er-Jahre war die Lage der organisierten Evangelisch-Lutherischen Kirche und ihrer Diener in der UdSSR äußerst prekär. Die Kirche wurde im Zuge der sozialistischen Umgestaltung systematisch unterdrückt, ihrer Besitzungen komplett beraubt, ihre Organisationen und Aktivitäten wurden verboten und sie an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Die Sowjetmacht konfiszierte die Wohnungen der Pfarrer und überführte sie als einstige Stützen des Altregimes in die Kategorie „stimmlose“. Das bedeutete u. a. den Ausschluss von sozialen Leistungen wie Kranken- oder Rentenversicherung, und ihre Kinder durften nicht studieren. Ihre im Allgemeinen geringeren Gehälter unterlagen einer erhöhten Besteuerung. Für jedes auch noch so geringfügige Vergehen drohten ihnen hohe administrative Strafen oder gar Verhaftungen. Offene Verunglimpfungen und Beleidigungen waren an der Tagesordnung. Das war buchstäblich ein täglicher Kampf ums nackte Überleben, der die meisten Geistlichen in der UdSSR zermürbte.

Dokumentausschnitt: Unterstützung des Gustav-Adolf-Vereins für die Schwesterkirche in der UdSSR, 1934 (Das gesamte Dokument lesen Sie weiter unten …)

Weiterlesen

Schlussbetrachtungen zur wiss. Reihe „Erste russlanddeutsche Akademiker“

Der Vorabdruck von Biografien der ersten Akademiker aus der Mitte der Siedler-Kolonisten ist Ende 2023 abgeschlossen worden. Seit Juli 2020 sind in der Zeitschrift „Volk auf dem Weg“ (VadW) 34 Folgen mit insgesamt 183 Lebensläufen von „Kolonistensöhnen“ erschienen, die an der Universität Dorpat (ab 1893 – Jurjew, heute Tartu in Estland) von 1802 bis 1918 studiert hatten. Unter allen Hochschulen des damaligen Russischen Reiches verzeichnete diese baltische Universität die größte Anzahl von Studierenden aus dem deutsch-bäuerlichen Siedlermilieu. Siehe Tabelle 1:


Demnach stellten die Schwarzmeerdeutschen die meisten der Studierenden: 105 Personen oder 57 Prozent, davon allein aus Bessarabien 48 Personen. An zweiter Stelle folgten ihnen zahlenmäßig die Wolgadeutschen (einschließlich der Studierenden aus Sarepta und den Mennonitendörfern der Region) mit 67 Personen bzw. 37 Prozent. Eine kleine Differenz im Vergleich zur bereits in der VadW gedruckten Fassung geht auf die genauere regionale Zuordnung eines Studenten zurück. Wesentlich weniger Immatrikulationen gab es bei den Transkaukasusdeutschen: 10 Personen bzw. 5 Prozent.

Weiterlesen

Statistik des Monats „September 2024“

Nachdem wir Ihnen im vergangenen Monat die „Überwiegend im Freundes-/Bekanntenkreis gesprochene Sprache 2020 (nach Bildungsniveau und Migrationshintergrund)“ vorgestellt haben, präsentieren wir Ihnen in diesem Monat die „Kontakthäufigkeit zu Deutschen im Freundes- und Bekanntenkreis, am Arbeitsplatz und in der Nachbarschaft 2020 (nach Migrationshintergrund)“.

Weiterlesen

Ein aufschlussreiches Dokument über deutsche Sondersiedler aus dem Jahr 1956

Dokument des Monats

Als „Dokument des Monats“ möchten wir Ihnen eine behördliche Auskunft über die deutschen Sondersiedler aus einer der administrativ-territorialen Einheiten im Gebiet Swerdlowsk vorstellen. Welche Schlussfolgerungen und Erkenntnisse lassen sich aus diesem seltenen Dokument aus dem Jahr 1956 gewinnen?

(Quelle: Dokumentationszentrum der gesellschaftlichen Organisationen des Gebiets Swerdlowsk, Stadt Jekaterinburg).

1) Diese Bescheinigung enthält einige Auslassungen und falsche Behauptungen, etwa dass die Ausweisungen der deutschen Minderheit nur aus der Wolgarepublik sowie den Städten Moskau und Leningrad stattfanden. Es ist indessen allgemein bekannt, dass es auch Deportationen aus dem Transkaukasus, der östlichen Ukraine und dem Nordkaukasus gegeben hat – kurzum, aus Dutzenden von Regionen und Städten im europäischen Teil des Sowjetstaates. Die Behauptung, dass neben den Männern auch „arbeitsfähige alleinstehende Frauen“ zur Arbeit mobilisiert wurden, ist schlichtweg falsch. Nachweislich wurden unter anderem kinderreiche Mütter, Jungen ab 15 Jahren und Mädchen ab 16 Jahren – also noch Kinder – für die Dauer des Krieges in diverse Zwangsarbeitslager gebracht. Immerhin sind die Verfasser des Dokuments insofern „ehrlich“, als sie offen zugeben, dass deutsche Sowjetbürger dem „Lagerregime unterstellt“ und bewacht wurden; konkret bedeutet dies, dass man sie als Kriminelle behandelte.

Weiterlesen

Dokumente jüngster Geschichte: Zwei Präsidentenerlasse zu einem ähnlichen Thema, die jedoch unterschiedlicher nicht sein könnten

In weniger als zwei Jahren, am 21. April 2014 und am 31. Januar 2016, hat Präsident Wladimir Putin zwei Erlasse in Bezug auf die Deportationen einiger Völker während der Stalinzeit unterzeichnet. Sie wurden hauptsächlich den zwei bis heute nicht vollständig rehabilitierten Nationalitäten gewidmet: den Krimtataren sowie den Wolgadeutschen – und damit insgesamt der Gruppe der Russlanddeutschen.

Auf dem Foto sehen Sie einen Teil der Absage in Bezug auf die Wiederherstellung der wolgadeutschen Autonomie. Quelle: Dr. Viktor Krieger.

Im ersten Fall handelte es sich um einen Rechtsakt betreffend die Rehabilitierung des Krimtatarischen und einer Reihe anderer Sowjetbürger armenischer, italienischer, griechischer, deutscher und bulgarischer Nationalität, die nach 1941 im Zuge der stalinistischen Repressalien aus der damaligen Autonomen Republik Krim deportiert wurden:

Weiterlesen

Zur Entstehungsgeschichte der Petri-Pauli-Kirche in Tiflis

(Dokument des Monats)

Unser Quellenbestand zur Geschichte der deutschen Minderheit im Transkaukasus ist um ein weiteres seltenes Dokument reicher geworden. Es handelt sich um den „Bericht über den Bau der Evangelisch-Lutherischen PETRI-PAULI-KIRCHE in Tiflis 1893–1897“, herausgegeben vom Kirchenrat, Tiflis 1898.

Titelseite des Berichts

In der Broschüre finden sich wertvolle Hinweise auf die Entstehungsgeschichte der städtischen evangelisch-lutherischen Gemeinde in Tiflis (heute Tbilissi), die mit der Ansiedlung der württembergischen „Glaubensseparatisten“ im Herbst 1818 in direkter Verbindung steht.

Unter den anfänglich sieben Kolonien gab es eine unmittelbar in der Vorstadt mit dem Namen Neu-Tiflis. Dort wurde bereits im Februar 1834 das erste Kirchengebäude eingeweiht; die Siedlung selbst wurde 1861 eingemeindet und bildete seither den Kern des Kirchspiels Tiflis. Mit der Zeit wurden die Räumlichkeiten der einstigen Kolonistenkirche zu eng für die rasch wachsende Stadtgemeinde, und so beschloss der Kirchenrat, ein neues Gotteshaus zu bauen.

Die Broschüre enthält detaillierte Schilderungen nicht nur des finanziellen und bautechnischen Ablaufs der Bauarbeiten, sondern auch der innerkirchlichen Entwicklungen der Tifliser Gemeinde im 19. Jahrhundert. Am 18. Mai 1897 wurde die Petri-Pauli-Kirche unter großem Aufgebot von zahlreichen kirchlichen und weltlichen Würdenträgern, darunter Großfürst Nikolai Michajlowitsch und weitere hochrangige Vertreter der Militär- und Zivilverwaltung im Transkaukasus, eingeweiht.

Weiterlesen

Viktor Krieger auf Recherchereise in Berlin

Unser wissenschaftlicher Mitarbeiter, Dr. Viktor Krieger, war vom 17. bis zum 21. Juni auf einer Recherchereise im Evangelischen Zentralarchiv (EZA) und in der Bibliothek des Bundesarchivs in Berlin. Das Evangelische Zentralarchiv beherbergt umfangreiches Material zur Kirchenpolitik des Sowjetstaates in den 1920er- und 1930er-Jahren. Interessant und aufschlussreich fand Krieger die Reaktionen, die diese Politik in kirchlichen Kreisen verschiedener europäischer Staaten ausgelöst hatte. Die Kirche hatte damals im Rahmen der Aktion „Brüder in Not“ vielfältige Unterstützung für die Wolga- und Schwarzmeerdeutschen, insbesondere während der Hungerjahre 1920‒1924 sowie Anfang der 1930er-Jahre geleistet.

Ev. Zentralarchiv, Berlin.

Die wachsende Unterdrückung und Verfolgung der deutschen Gläubigen sowie der evangelischen und katholischen Geistlichen lösten vor allem in Deutschland große Empörung aus und führten dazu, dass zahlreiche Hilfsaktionen ins Leben gerufen wurden. Davon zeugen dutzende Aktenordner, die verschiedene Berichte, Rechenschaften, Stellungnahmen, Statistiken, Briefwechsel von zahlreichen Personen mit In- und Ausland und dergleichen enthalten.

Insbesondere die Unterlagen des Gustav-Adolf-Werkes der Ev. Kirche Deutschlands zeigen das Ausmaß an Unterstützung für bedrängte Geistliche und einzelne Gläubige, sei es in Form von Hilfspaketen oder Überweisungen via Torgsin*, die eine Zeitlang möglich waren. Vor allem die Geistlichen fungierten damals als Vertrauenspersonen, empfingen und leiteten die Hilfe an die bedürftigen Gemeindemitglieder weiter.

Die in der UdSSR ausharrenden Pfarrer äußerten immer wieder den Wunsch, ihren Kindern die christliche Erziehung und höhere Bildung in Deutschland zu ermöglichen, da beides in der Sowjetunion nicht möglich war. Der Schriftwechsel allein zu diesem Thema füllt mehrere Aktenordner.

Weiterlesen

Erster Universitätsprofessor aus dem Umfeld der Siedler-Kolonisten

(Dokument des Monats)

Friedrich Knauer (1849-1917) aus Sarata war eine bemerkenswerte Persönlichkeit unter den ehemaligen deutschen Kolonisten in Bessarabien und weit darüber hinaus, da er der erste Universitätsprofessor aus dem Umfeld der deutschen Siedler im Russischen Reich war. Mit dem folgenden Dokument möchten wir seine handschriftliche Bittschrift aus dem Jahr 1881 vorstellen, in der der zukünftige Professor um ein sogenanntes Professorenstipendium ersuchte. Aus dieser Eingabe erfahren wir wichtige Einzelheiten über seinen bisherigen Bildungs- und Berufsweg.

Fragment der Eingabe von Friedrich Knauer 1881. @ Estnisches Nationalarchiv (das vollständige Dokument sowie seine Transkription siehe die Dateien am Ende des Beitrags):

Die Bittschrift ist ein seltenes zeitgeschichtliches Dokument aus der Feder eines Siedler-Kolonisten in Russland, der aus ärmeren, bäuerlichen Verhältnissen stammte und eine erfolgreiche akademische Laufbahn einschlug, obwohl er die russische Staatsprache erst im Erwachsenenalter erlernte. Eine Besonderheit in Bezug auf den Schreibstil fällt auf: Knauer berichtet von sich selbst in der dritten Person, wie in der damaligen Zeit üblich.

Weiterlesen

Literarisches Kulturerbe der Russlanddeutschen

In diesem Buch erwartet Sie eine bunte Mischung literarischer Formen und Blickwinkel...

In einem Lexikon wird Literatur folgendermaßen definiert: Sie ist „Gesamtheit der schriftlich niedergelegten Äußerungen, im engeren Sinn das gesamte schöngeistige Schrifttum“. Da stellen sich unweigerlich solche Fragen wie: Was wissen wir z. B. über das Leben und Werk eines wolga- bzw. schwarzmeer- oder sowjetdeutschen Schriftstellers, Literaten, Redakteurs, Journalisten, Verlagsmitarbeiters, Sprachwissenschaftlers oder Autoren von Schulbüchern? Was ist uns über ihre schöngeistigen Werke und ihr gesamtes Schrifttum bekannt? Wie wurden sie von den gesellschaftspolitischen Entwicklungen ihrer Zeit geprägt und wie haben sie selbst die damaligen kulturellen und literarischen Prozesse beeinflusst?

Die gesamte Thematik des „Literarischen Kulturerbes“ im breiten Sinne des Wortes gehört zu den Kernaufgaben des Bayerischen Kulturzentrums der Deutschen aus Russland (BKDR). Neben der Zugänglichmachung von zeithistorischen Werken und Quellen wird das besondere Augenmerk auf einige, bislang kaum erforschte Aspekte der nationalen Literaturgeschichte gelegt.

Zuerst wurden die Schicksale der sowjetdeutschen Kulturschaffenden in der Ukrainischen Unionsrepublik der Zwischenkriegszeit beleuchtet. Seit Beginn der 1930er Jahre wurde die überwiegende Mehrheit ihrer Vertreter in einer Reihe von Strafprozessen unter absurden Beschuldigungen verhaftet und zu mehrjähriger Lagerhaft oder zur Erschießung verurteilt [erste Hinweise hierzu finden Sie HIER!]. Die Auswertungen der entsprechenden Untersuchungsakten aus den ukrainischen Archiven der Staatssicherheit (Служба безпеки) erlauben es, neue Erkenntnisse über das literarische und kulturelle Leben der Deutschen in der Ukraine zu gewinnen und Biografien der verfolgten Intellektuellen in wesentlichen Punkten zu vervollständigen. Häufig konnte der Lebenslauf einer Person erst aus den Strafakten erstellt werden, da über sie bislang kaum etwas bekannt war.

Weiterlesen

Erste russlanddeutsche Akademiker: Folgen 29, 30 und 31

Brüder Stenzel in Dorpat

Drei Brüder der Familie Stenzel aus dem Gouvernement Saratow studierten ebenfalls in Dorpat. Über das Leben und Werk des älteren, Johannes (1877–1946), der den Weg eines Seelsorgers eingeschlagen hat und lange Zeit an der Genezarethkirche in Berlin amtierte, ist vieles bekannt, hingegen kennen wir aus den Biografien der beiden jüngeren, Jakob (1882–1930) und Heinrich (1884 – nach 1910), die Medizin studiert hatten, nur wenige Details. Pastor Johannes Stenzel hat viel in verschiedener Periodika publiziert; von ihm stammen einige Bücher und mehrere Aufsätze über die Wolgadeutschen sowie die Christenverfolgung in Sowjetrussland.

Johannes Stenzel mit seinem bekanntesten Werk, Berlin 1923.

Weiterlesen

Rechtschreibreform in der wolgadeutschen Republik

Dokument des Monats

Ausschnitt, Vollständiges Dokument s. unten Bild 1.

Im Deutschen Reich und in anderen deutschsprachigen Ländern hatte es eine lange Tradition und aktive Vorstöße gegeben, die zur Reform der deutschen Rechtschreibung, vor allem im 19. Jahrhundert, führten. Die Idee der Vereinfachung der deutschen Sprache blieb auch im 20. Jahrhundert präsent und mündete zuletzt in der allbekannten und bis  heute umstrittenen Reform der deutschen Rechtschreibung von 1996.

Ähnliche Bestrebungen und Versuche hatte es ebenfalls in der UdSSR in den deutschen Siedlungsgebieten in der Zwischenkriegszeit, etwa in der Ukrainischen Sowjetrepublik gegeben, doch vielmehr noch in der autonomen Republik der Wolgadeutschen. Auf den ersten Blick mag es überraschend erscheinen, weil in der wolgadeutschen Republik weniger als ein Prozent der weltweiten deutschsprachigen Bevölkerung lebte. Andererseits darf man den welthistorischen Anspruch der marxistisch-leninistischen Ideologie nicht unterschätzen: Man verstand sich quasi als erster und einziger deutscher sozialistischer Staat der Welt, der sich den Weg zur höchsten Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung bahnte, nämlich zum Kommunismus. Daher sahen sich die Partei- und Staatsspitze der autonomen Republik befugt, jegliche Frage und jegliches Problem der Welt anzugehen und Lösungen zu präsentieren.

Als Anlass diente die allgemeine Feststellung, dass „unsere deutschen Schulen in Bezug auf die Erfolge der Rechtschreibung weit hinter den russischen zurückbleiben“, weil „in der russischen Sprache die Rechtschreibung bedeutend vereinfacht, während in der deutschen die alte deutsche Rechtschreibung, die bekanntlich noch hinter der alten russischen zurücksteht, beibehalten wird.“ (Zur Reform der russ. Sprache von 1918 siehe den ausführlichen Bericht hier …)

Weiterlesen

„Stimmen aus dem Niemandsland“, Literaturalmanach 2023-2024 erschienen

Das Buch aus der Reihe Literaturblätter der Deutschen aus Russland (Almanach 2023/2024) versammelt vorwiegend Texte von Autorinnen und Autoren, die im Spannungsfeld zwischen der deutschen und der russischen Kultur sozialisiert worden sind. Die Texte spiegeln die Vielfalt menschlicher Erfahrungen wider und drücken die Sehnsucht nach Heimat, Familie und einem sicheren, friedlichen Zuhause aus. Aspekte wie Fremdsein, Identitäts- und Heimatverlust beziehungsweise die Suche nach einer neuen Heimat sind in unserer von Migration geprägten Gegenwart aktueller denn je. Aufgrund ihrer wechselhaften und zum großen Teil tragischen Geschichte haben die Deutschen aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion einen besonderen Bezug zu diesen Themen entwickelt. Das Gefühl, immerzu DAZWISCHEN zu stehen, sich irgendwo im Niemandsland zu befinden, war prägend auch für frühere Generationen sowjet- und russlanddeutscher Autorinnen und Autoren.

In diesem Buch erwartet Sie eine bunte Mischung literarischer Formen und Blickwinkel. Zum Teil stammen die Beiträge von bereits etablieren Autorinnen und Autoren, zum Teil sind es Berichte von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die auf detaillierte Art und Weise ihre Erinnerungen aus den letzten Jahrzehnten
festhalten. Überzeugen Sie sich selbst. Lauschen Sie den literarischen Stimmen aus dem Niemandsland!

Liste der Autorinnen und Autoren, die in diesem Band vertreten sind (nicht alphabetisch): Julia-Maria Warkentin, Irene Langemann, Wendelin Mangold, Eugenia Mantay, Elisabeth Schermuly, Heinrich Rahn, Inga Kess, Katharina Peters, Alexander Weiz, Elisabeth Steer, Andreas A. Peters, Helena Goldt, Max Schatz, Sergej Tenjatnikow, Rosa Kordan, Artur Rosenstern, Lydia Galochkina, Melitta L. Roth, Helene Rahn, Carola Jürchott, Mila Dümichen, Rosa Ananitschev, Ilona Walger, Viktor Krieger und Irene Kreker.

Weiterlesen

Neuer virtueller Rundgang: Das Museum „An Erinnerungen anknüpfen“ in Aldea Valle María (ehemals Marienthal) in Argentinien

Das Bayerische Kulturzentrum der Deutschen aus Russland (BKDR) hat bisher 20 virtuelle Rundgänge (VR) zu Objekten mit russlanddeutschem Themenbezug in den Ländern Kasachstan, Russland, der Ukraine und Usbekistan veröffentlicht. Nun wird mit diesem innovativen Angebot des digitalisierten Museums „An Erinnerungen anknüpfen“ in Aldea Valle María (ehemals Marienthal) mit Argentinien ein Land aus Südamerika in das Forschungsfeld eingebunden.

Zum VR gelangen Sie HIER!

Das Museum „An Erinnerungen anknüpfen“ wurde am 18. Juli 2014 auf Initiative der Dorfbewohner sowie von Mitgliedern der Choreografiegruppe “Raíces Alemanas” und mit Unterstützung der Gemeindebehörden gegründet. Das Museum ist in einem typischen wolgadeutschen Haus untergebracht. Dieses Haus ist im Familienbesitz und wird an die Museumsbetreiber vermietet. Die meisten Ausstellungsobjekte wurden dem Museum von den Einwohnern gespendet. Im Jahr 2019 erwarb die Gemeinde zusätzlich ein Haus im historischen Ortskern, in dem die Familien Ortmann und Kranevitter von 1878 bis 2013 lebten. Die Räume wurden restauriert und teilweise umgebaut, wobei die typische Bauweise der dörflichen Gebäude beibehalten wurde. Die feierliche Eröffnung fand am 21. Juli 2023 im Rahmen des 145-jährigen Jubiläums der Ankunft der Wolgadeutschen und der Gründung der fünf Mutterkolonien statt. Der tiefe Glauben der Familien, die hier lebten, spiegelt sich in den beiden religiösen Gemälden an der Decke wider, die in den 1940er Jahren angefertigt wurden: das Heiligste Herz Jesu und eine Taube als Symbol des Heiligen Geistes.

Weiterlesen

Materialien der Gründungskonferenz der „Wiedergeburt“ (1989)

Zur Vorgeschichte und Gründung der Gesellschaft „Wiedergeburt“, welche die Rechte und Interessen der deutschen Minderheit in der UdSSR wahren sollte, haben wir HIER bereits ausführlich berichtet. Für ein besseres Verständnis der Absicht und damit verbunden den Zielen der zum damaligen Zeitpunkt neuen Organisation, stellen wir unseren Lesern eine Broschüre mit Materialien dieser Zusammenkunft vor. Sie erschien zu jener Zeit in russischer Sprache – ähnlich wie ein Schriftstück aus den Zeiten der Samisdat-Literatur – und trug die etwas sperrige Überschrift: „Materialien der I. Allunions–Gründungskonferenz der Sowjetdeutschen (Moskau, 28.-31. März 1989)“.

Die Teilnehmer der Konferenz haben neben dem Programm, Statut und der Resolution ein bemerkenswertes Dokument verabschiedet: Den Appell an die Bevölkerung, die auf dem Territorium der einstigen Autonomen Republik der Wolgadeutschen lebte. Dort stand unter anderem:

Weiterlesen

Eine Landkarte aus dem Jahr 1938 als Instrument der nationalsozialistischen Ideologie

Dokument des Monats Februar

Im Rahmen der Rubrik „Dokument des Monats“ möchten wir eine vielsagende Landkarte aus dem Jahr 1938 präsentieren. Diese zeigt laut Überschrift „den deutschen Bevölkerungs- und Kulturanteil in den Staaten Europas“ an. Was allerdings unter „Kulturanteil“ wirklich gemeint ist, geht aus der grafischen Darstellung leider nicht klar hervor. Hier liegt die Vermutung nahe, dass die Begriffe „Deutsch“ und „Kultur“ als gleichbedeutend eingestuft werden.

Deutschsprachige Minderheiten in europäischen Ländern, 1938 © Bundesarchiv

Die Bevölkerungszahlen und Siedlungsgebiete sind ziemlich genau angegeben. Allerdings handelt es sich hierbei faktisch lediglich um die Anzahl von Deutschsprachigen in den jeweiligen Staaten, denn 1938 verstand sich die Bevölkerung in der Schweiz, Elsass-Lothringen mehrheitlich oder auch teilweise in Österreich nicht als Deutsche, sondern als eigenständige Nationalitäten bzw. Nationen. Die Karte wurde nach dem Anschluss Österreichs an Deutschland veröffentlicht, die österreichische Bevölkerung wurde aus diesem Grunde administrativ de facto zu den Reichsdeutschen gezählt.

Weiterlesen

Ein Zeichen gegen die staatliche Germanophobie aus dem Jahr 1967

(Dokument des Monats)

Subtile und offene Formen von Stimmungsmache gegen die Deutschen begleiteten die Geschichte der Sowjetunion seit Anfang der 1930er-Jahre bis zum totalen Zusammenbruch des Sowjetsystems 1991. Besonders stark waren sie verständlicherweise während des Deutsch-Sowjetischen Krieges sowie unmittelbar danach ausgeprägt. Aber auch in der „Nach-Stalin-Ära“ blieben die germanophoben Einstellungen und Vorurteile sehr virulent (siehe dazu unseren Beitrag Germanophobie im Russischen Reich und in der Sowjetunion).

Einer der wenigen Beispiele des Kampfes gegen dieses weit verbreitete Übel liefert uns das Archiv der Zeitung „Freundschaft“. Sie wurde ab dem 1. Januar 1966 zunächst in Zelinograd (heute Astana) und später, ab 1988, in Alma-Ata (Almaty), der damaligen Hauptstadt der Unionsrepublik Kasachstan, als Tageszeitung herausgegeben und erscheint aktuell als Wochenschrift unter dem neuen Namen „Deutsche Allgemeine Zeitung“ (DAZ).

Briefkopf der Zeitung „Freundschaft“, © Archiv des Präsidenten der Republik Kasachstan (AP RK), Almaty

Briefkopf der Zeitung „Freundschaft“.

© Archiv des Präsidenten der Republik Kasachstan (AP RK), Almaty.

Der erste Chefredakteur hieß Alexei Borisowitsch Debolski (1916-1997) – in politischen Angelegenheiten trat er unter dem Pseudonym Schmeljew auf: Debolski prägte das Erscheinungsbild der Zeitung mehr als zehn Jahre lang bis 1977. Er hatte aktiv am „Großen Vaterländischen Krieg“ teilgenommen und nach 1945 einige Jahre als Journalist für die „Tägliche Rundschau“ in Berlin gearbeitet. Als ehemaliger Politoffizier mit hervorragenden Kenntnissen der deutschen Sprache, der sich zudem literarisch betätigte, schien er ideal geeignet zu sein, um ein Presseorgan für die deutsche Minderheit im ideologisch erwünschten Sinne zu gestalten.

Weiterlesen